… Als Rosenblau mit ihren gut trainierten Ohren diese Schritte zuerst hörte, legte sie ihrem Freund Rußschwarzchen rasch den Zeigefinger auf die Lippen. Der verstand sofort und blieb mucksmäuschenstill, während das blinde Mädchen lauschte. Nach einer Weile flüsterte sie: „Da kommt jemand, es ist nur eine Person, und sie muss recht klein sein, denn die Schritte folgen in kurzen Abständen auf einander, die Beine sind nicht lang. Vielleicht ein Kind, möglicherweise ist eines der kleinen Kinder aus unserem Dorf in den Wald gelaufen und braucht Hilfe. Es kommt näher, muss bald da sein. Schau dich mal um!“
Sofort wandten sich beide dem Geräusch der herannahenden Schritte zu. „Du hast Recht“, murmelte der Junge leise. „Auf dem gleichen Pfad, auf dem auch wir hierhergegangen sind, kommt ein Kind, aber ich kenne es nicht. Es schaut ganz komisch aus, hat eine rote Zipfelmütze auf und einen strubbeligen Bart im Gesicht…“
„Oh, Rußschwarzchen!“, entgegnete sie und hätte beinahe laut losgelacht. „Dann ist es doch kein Kind, sondern ein Zwerg!“
Schon war der Zwerg bei den beiden angelangt, er deutete zum Gruß eine leichte Verbeugung an, dann fragte er die beiden, ob er ihnen helfen könne. „Wisst ihr, ich habe vorhin schon beobachtet, wie ihr hier im Wald etwas gesucht habt. Ihr habt herumgetastet und immer auf den Boden geschaut. Ich helfe euch gerne. Was sucht ihr denn?“
Rosenblau erklärte dem freundlichen Zwerg, dass sie die Spur des Prinzen und der Räuber gesucht hätten, sie erzählte auch von der Belohnung, und dass die Erwachsenen aus dem Dorf es nicht geschafft hätten, den Prinzen zu finden. Da unterbrach sie der Zwerg: „Ich kann mir schon denken, wo der Prinz ist. Genau hier hinter diesen Brombeerbüschen befindet sich der Eingang zur Räuberhöhle. Zum Glück ist die ziemlich tief, deshalb haben uns die Räuber noch nicht gehört. Und auch nicht die Anführerin, das ist nämlich eine Hexe. Aber wir sollten uns besser erst einmal verstecken, ich weiß schon wo. Kommt mit, dann erzähle ich euch noch mehr!“
Sollten sie wirklich mit diesem unbekannten Zwerg in den Wald gehen? Vielleicht wollte er sie in einen Hinterhalt locken? Rußschwarzchen blickte seine Freundin ratlos an, die schien diese unausgesprochene Frage gespürt zu haben und nickte kaum merklich mit dem Kopf. Die Stimme des Zwerges klang so ehrlich und freundlich, da hatte sie keine Bedenken.
Der Zwerg führte die beiden zu einer kleinen Waldlichtung, die von hohen Tannen umgeben war. Auf dieser versteckten Lichtung wuchsen eigenartige Kräuter, sie verströmten einen Duft, der Rosenblau völlig fremd war. An einer Stelle hatten die Tannen viele Samen ausgesät, es wuchsen dicht neben einander junge Bäume, ein richtiges Dickicht. Hierhin führte der Zwerg seine Gefährten und sie versteckten sich dahinter, mit Blick zur Lichtung.
Dann berichtete der Zwerg: Er selbst war eigentlich ein Prinz, der Prinz von Butzelwald. Vor einigen Jahren schon hatten die Räuber auch ihn hier im Wald gefangen genommen und in der Höhle, vor der die Brombeersträucher wuchsen, eingesperrt. Von seinem Vater hatten die Unholde ein hohes Lösegeld verlangt, und dieser hatte es auch gezahlt, der gefangene Prinz hatte mit eigenen Augen gesehen, wie die Räuber in der Höhle das Gold unter sich aufteilten und dabei hämisch den König hochleben ließen. Aber freigelassen hatten sie ihn dennoch nicht. „Ich war nämlich so zornig, als ich hörte, wie die Räuber sich über meinen Vater lustig machten,“ fuhr er fort. „Da habe ich die Hexe eine hässliche Kuh genannt. Die wurde aber schrecklich wütend und hat mich in einen Zwerg verzaubert. Ich bin an diesen Ort gebunden, der Zauberbann der Hexe verhindert, dass ich den Wald verlassen kann. Jetzt will ich wenigstens helfen, den anderen Prinzen zu befreien, bevor ihm ein ähnliches Schicksal widerfährt.“
Der Zwerg hatte auch schon einen Plan: Er wusste, dass genau auf dieser Lichtung irgendwelche Kräuter wuchsen, die die Hexe jeden Tag hier sammelte. Bald würde sie kommen, dann wollte er sie wieder hässlich nennen und damit wütend machen, das war ja ihr Schwachpunkt, dann konnte sie ihre Wut kaum im Zaum halten. Der Zwerg wollte sie dazu bringen, ihm nachzurennen, dann könnten Rosenblau und Rußschwarzchen sie im dichten Gebüsch von hinten packen. „Nun ja,“ wandte das blinde Mädchen ein, „der Plan könnte klappen, wenn du nicht direkt auf uns zurennst, sonst entdeckt die Hxe auch uns. Aber es könnte auch schiefgehen, und dann bist du in der größten Gefahr, lieber Zwerg. Oder… ähhh…“, sie begann zu stottern: „…äh, ich muss ja eigentlich ‚Königliche Hoheit‘ sagen…“
Der Zwerg wischte ihre Bedenken mit einer Handbewegung beiseite: „Nenn mich nur weiter Zwerg, der Name ist doch egal. Und für mich ist das nicht gefährlich. Schlimmeres kann mir die Hexe nicht antun, denn wenn sie mich noch übler hätte verhexen können, dann hätte sie das längst getan. Immer wenn ich ihr hier im Wald begegne, drehe ich ihr eine lange Nase, um sie zu ärgern.“
Plötzlich hielt er inne. „Still, sie kommt!“, raunte er den anderen zu, dann starrten alle höchst konzentriert auf die Lichtung. Alle? Na ja, Rosenblau hielt den Kopf ziemlich schief, wie man es tut, wenn man die leisesten Geräusche zu erhaschen versucht.
Zielstrebig wanderte die schwarz gekleidete Hexe auf die Lichtung zu, schon am Rand blieb sie kurz stehen und bückte sich: „Ah, da ist ja schon eines meiner wunderbaren Kräutlein, die jede Krankheit heilen können. Und wie gut ihr duftet! Schade, dass ihr so selten wachst, und auch nur hier auf meiner Lichtung. Hätte ich mehr von euch, würde ich unermesslich reich werden. Aber so muss ich euch aufsparen, für mich selbst und für meine Räuber.“ So murmelte sie, steckte das Kraut in ihren ledernen Kräuterbeutel, dann tat sie ein paar Schritte und bückte sich wieder: „Noch ein kleines Krautblättlein, sehr schön. Und sogar noch eines!“
Kaum hatte sie auch diese Kräuter in ihrem Beutel verstaut, brüllte schon der Zwerg mit verstellter Stimme aus dem Dickicht: „Na, du hässliche Kröte, was tust du hier? Fang mich doch!“ Dann duckte er sich schnell und kroch durch das dichte Gestrüpp der jungen Tannen, wobei er hoffte, dass ihm hier seine Kleinheit ein Vorteil sein würde.
Die Hexe schaute zu ihm hinüber, wütend zog sie die Luft ein. Es dauerte nur eine Sekunde, dann ließ sie den Kräuterbeutel einfach fallen und nahm die Verfolgung auf. Aber sie hatte den Zwerg nicht gesehen, wusste also nicht, wem sie da hinterherrannte, sie sah nur undeutliches Geraschel im Gebüsch. Mit einem Aufschrei stürzte sie hinzu und versuchte, mit großen Schritten das niedrige Gestrüpp zu überwinden, wobei sie ihr schwarzer Mantel eher hinderte. Noch ein langer Schritt, sie musste diesen Kerl, der sie hässlich genannt hatte, bestrafen. In diesem Moment blieb einer ihrer Füße im dichten Tannengestrüpp hängen, gerade als sie zu einem weiteren Satz nach vorne ausholen wollte. Sie verlor das Gleichgewicht, stürzte mit großer Wucht mit dem Kopf voraus zu Boden und schlug auf einen spitzen Felsen, etwa so groß wie ein Fußball, auf. Reglos blieb sie liegen.
Die beiden Jugendlichen verfolgten dieses Geschehen, verstanden aber nicht, was eigentlich passierte. Rosenblau, weil sie nur die Geräusche wahrnehmen konnte, und Rußschwarzchen, weil er es eben so schnell nicht verstehen konnte. Aber als es jetzt mit einem Mal völlig still geworden war, fiel dem Mädchen ein: die Hexe hatte doch etwas von Kräutern, die geusnd machen, gemurmelt. Und sie hatte sie in eine lederne Tasche gesteckt, das konnte sie aus den Geräuschen folgern, die Tasche war dann auf den Boden gefallen. Und dieser besondere Duft hier musste auch von den Kräutern sein… So geräuschlos wie möglich kroch sie auf allen Vieren aus dem Versteck hervor auf die Waldlichtung. Sie tastete, ja, hier war der Beutel. Und der Duft, der ihm entströmte, war sehr stark. Mit geschickten Fingern öffnete sie den Beutel (der Deckel war nur mit einer Lederschlaufe locker zugemacht), sie fühlte drei Blätter, also war kein anderes Kraut darin. Die Hoffnung gab ihr die Kraft, einen Versuch zu wagen, und sie steckte sich ein Blatt in den Mund.
Nicht einmal eine Minute später ertönte ein leiser Aufschrei auf der Lichtung: „Oh,was ist das?! Meine Augen, alles ist so anders! Sind das Farben, von denen immer alle reden?“ Mit ungläubigem Staunen und weit aufgerissenen Augen blickte sie in alle Richtungen. Rußschwarzchen lief zu ihr und freute sich mit ihr, auch wenn er noch nicht begriffen hatte, worüber sie sich freute.
Da erklangen feste, sichere Schritte hinter den Tannen. Ob die Hexe kam? Rosenblau wagte es hinzusehen, nein, die Hexe lag immer noch auf dem Boden, vielleicht war sie sogar tot. Plötzlich stand ein großer, nicht mehr ganz junger Mann zwischen den Bäumen, seine dunklen, gelockten Haare waren ordentlich gekämmt, er trug ein edles Gewand aus teuerem Stoff. Wer mochte er sein?
„Gestattet bitte, dass ich mich vorstelle: ich bin der Prinz von Butzelwald. Die Hexe muss wirklich durch den Sturz auf den Kopf gestorben sein, denn im selben Moment war der Zauberbann erloschen und ich war erlöst. Für euren Mut und eure Hilfe danke ich euch von Herzen.“
Der Rest der Geschichte ist schnell erzählt: Der Prinz von Butzelwald hätte gerne seine eigene Ritter zur Hilfe gerufen, aber sein Land war weit entfernt. Daher wanderte er mit Rosenblau und Rußschwarzchen zum König, der zur Befreiung seines Sohnes sofort alle Ritter losschickte. Die Räuber hatten durch den Tod der Hexe auch ihre Anführerin verloren, sie ergaben sich nach kurzem Kampf und wurden ins Gefängnis geworfen. Rosenblau eilte zum gefangenen Prinzen in die Höhle hinein und löste sofort seine Fesseln – und sobald dieser wieder auf seinen Beinen stand, fiel er vor ihr auf die Knie und bat sie um ihre Hand. Da Rosenblau den Prinzen heiraten durfte, verzichtete sie gerne auf ihren Teil der Belohnung. Die bekam Rußschwarzchen allein, nun war er der reichste Mann im Dorf, wurde von allen dort geachtet und von seiner besten Freundin oft besucht. Und dass er mit dem Denken so seine Schwierigkeiten hatte, machte nichts aus, denn alle Bauern halfen ihm nun gerne, hofften sie doch, ein paar Talerchen abzubekommen. Der Junge aber war zwar nicht klug, doch blöd war er auch nicht, und so hielt er sein Geld gut zusammen.
Der Prinz von Butzelwald fuhr mit einer königlichen Kutsche in sein Land, wo er mit viel Jubel empfangen wurde. Aber auch er wollte sich für die Hilfe erkenntlich zeigen. Und als er erfuhr, dass Rußschwarzchen am allerliebsten Weihnachtsplätzchen mochte, hatte er den richtigen Einfall: Sooft der Junge es wollte, bekam er ein großes Paket mit Vanillekipferln geschickt. Denn im Land Butzelwald gibt es die besten Vanillekipferl auf der ganzen Welt.
So waren also alle glücklich, und wenn sie nicht gestorben sind, dann isst Rußschwarzchen heute noch mit großem Genuss seine geliebten Vanillekipferl.
© Bertram der Wanderer und Klasse 4a