… Aber es waren keine normalen Schritte, die Rosenblau schon hören konnte, als sie noch sehr weit entfernt waren. Ungleichmäßig, langsam. ‚So geht jemand, der eine Verletzung hat‘, überlegte sie. ‚Der Mann oder die Frau hinkt. Aber ich glaube nicht, dass er oder sie sehr alt ist. Trotz des Hinkens bewegt sich die Person ziemlich geschickt, hebt die Füße vom Boden und setzt sie behutsam wieder auf. Alte Leute schlurfen mehr, ziehen die Schuhe über den Boden. Ach ja, Schuhe, ich glaube gar nicht, dass die Person Schuhe trägt, sie tritt nur mit den Zehen und dem Ballen auf, da höre ich keinen Schuhabsatz…‘ Innerhalb von Sekundenbruchteilen schoss dem blinden Mädchen das alles durch den Kopf. Dann raunte sie ihrem Gefährten zu: „Psst, Rußschwarzchen, sag jetzt nichts. Hier kommt jemand, schnell, verstecken wir uns. Siehst du, wo wir uns verstecken könnten?“
Ihr Freund begriff zwar nicht, was los war, aber er vertraute Rosenblau. Wenn sie ihn mahnte leise zu sein, dann hatte sie ihre Gründe. Darauf konnte er sich verlassen. „Bei diesen Brombeeren?“, gab er flüsternd zur Antwort.
„Lieber nicht, bei denen stimmt etwas nicht. Es ist Mai, da können Brombeeren nicht reif sein. Vielleicht sind das keine Brombeeren. Oder sie sind giftig. Oder verzaubert. Gibt es noch etwas anderes?“
‚Gegenüber ist ein ganz dicker Baum. Das geht.“ Schon ergriff Rußschwarzchen die Hand des Mädchens und führte sie zu dem Versteck. Die beiden waren so gut auf einander eingespielt, wenn er ihre Hand nur leicht nach links oder rechts zog, wusste sie, wohin sie ihre Füße setzen musste. Wenn er die Hand fest drückte, hieß das, sie solle aufpassen, weil ein Hindernis im Weg lag. Sie brauchten keine Worte. Als die hinkenden Schritte nahe genug waren, dass man die beiden Freunde gesehen hätte, waren die längst hinter dem Baum in Sicherheit. Zumindest vorübergehend in Sicherheit, solange sie hier lautlos verharrten. Hoffentlich hatte Rußschwarzchen begriffen, dass er nicht sprechen durfte. Aber offenbar hatte er das, er atmete sogar möglichst leise.
„Oh, Brombeeren!“, rief die Person, die hinkend hierher gekommen war. Die Stimme klang nach einem jungen Mädchen, vielleicht ebenfalls so um die 17 Jahre alt. Warum hinkte sie? Wenn sie verletzt wäre, müsste sie Schmerzen haben, dann würde ihre Stimme nicht so sanft und fröhlich klingen. Vielleicht lag die Verletzung schon länger zurück, ein gebrochener Knochen, der nicht richtig zusammegewachsen ist? Rosenblau fiel Hans ein, ein Junge aus ihrem Dorf. Nur wenig älter als sie war Hans gewesen. Mit 5 Jahren hatte er eine Krankheit bekommen, die Erwachsenen hatten diese Krankheit ‚Kinderlähmung‘ genannt. Da war das linke Bein von Hans nicht mehr richtig gewachsen, mehrere Jahre lang. Es blieb kürzer, deswegen hinkte er beim Gehen, immer stärker, je älter er wurde und je mehr das andere Bein weitergewachsen war. Vor sieben Jahren war Hans gestorben. Rosenblau wollte das Mädchen schon vor diesen Brombeeren warnen, da hörte sie, wie die zu sich selbst sagte: „Oh halt, es ist ja Mai. Das können keine Brombeeren sein, die sind im Mai noch nicht reif. Die esse ich lieber nicht.“ Ein Lächeln huschte über Rosenblaus Gesicht.
Aber dieses Lächeln gefror sofort wieder, denn auf einmal waren viele dumpfe Schritte zu hören, von schweren Stiefeln. Irgendwie gedämpft klangen die Schritte. Hoffentlich verhielt sich Rußschwarzchen weiterhin still. Sie drückte seine Hand, er erwiderte den Druck, er hatte verstanden. Dann raschelten Zweige, die Schritte wurden klarer. „Dort ist eine, die schnappen wir uns!“, brüllte eine Männerstimme. Andere Männer fielen böse kichernd ein. Das hinkende Mädchen versuchte davonzulaufen, aber das war für sie natürlich schwierig. Bald wurde sie von den Männern gepackt, sie schrie auf, dann wurde ihr vermutlich der Mund zugehalten, und man schleppte sie in die gleiche Richtung, aus der die Männer gekommen waren. Deren Stiefelgeräusche wurden wieder dumpfer, irgendwie schien der Boden die Männer langsam zu verschlucken. Jetzt wurde Rosenblau klar: Hinter diesen seltsamen Brombeeren musste der Eingang einer Höhle sein. Die Räuberhöhle!
Als alles wieder still geworden war, fragte sie Rußschwarzchen, und der bestätigte mit kanppen Worten ihre gehörten Beobachtungen. „Aber diese Räuber sind gemein! Das arme Mädchen! Sie ist sehr hübsch, gefällt mir. Und sie kann doch nicht weglaufen, weil sie ein krankes Bein hat. Diese Räuber sind ganz gemeine Blödmänner!“ Nur mit Mühe konnte er seine Wut soweit im Zaum halten, dass er nicht laut losschimpfte.
Aber Rosenblau beruhigte ihn, sie hatte bereits einen Plan gefasst: „Wir müssen diese Räuber dazu bekommen, dass sie selber die Brombeeren (oder was auch immer das ist) essen. Aber wir müssen vorsichtig sein, wenn die Früchte verzaubert sind, könnte eine Hexe zu den Räubern gehören. Und dem Prinzen, der wahrscheinlich in der Höhle gefangen ist, dürfen die Räuber keine Beeren geben.“
„Aber das machen die Räuber doch nicht,“ widersprach Rußschwarzchen. „Räuber wollen immer alles für sich haben. Die geben doch keine Beeren ab. Bestimmt haben sie selbst Hunger. Und die Beeren schauen so lecker aus. Ich darf ja nichts davon essen, hast du gesagt…“ Den verlockenden Beeren zu widerstehen, fiel ihm noch immer schwer.
„Dann müssen wir den Räubern die Beeren irgendwie so präsentieren, dass die sie essen und nicht merken, dass das ihre eigenen Beeren sind.“
„Pflücken wir sie eben in die Schüssel hinein, dann stellen wir die den Räubern vor den Eingang. Das sehen die gleich, wenn sie rauskommen, und dann essen sie sie…“ Für Rußschwarzchen war alles ganz einfach.
„Welche Schüssel?“, fragte Rosenblau völlig verwundert, aber Rußschwarzchen zog etwas vor seinem Bauch hervor und gab es ihr in die Hand, damit sie danach tasten konnte. Kein Zweifel, eine Strohschüssel. „Wo hast du die denn her?“
Ihr Freund antwortete: „Heute früh hat mir Mama angeschafft, die Hühner zu füttern. Das habe ich den ganzen Tag gemacht. Mama hat mich wohl vergessen und mir deshalb nicht gesagt, dass ich aufhören kann. Das war vielleicht viel Arbeit! Als wir beide in den Wald gegangen sind, hatte ich die leere Schüssel immer noch. Aber ich hab doch meine Hände gebraucht, um dich zu führen. Da hab ich die Strohschüssel ein bisschen zusammengedrückt und mir in den Hosenbund gesteckt. Wenn ich sie bei uns im Garten stehen gelassen hätte, dann hätte ich bestimmt Ärger gekriegt…“
Rosenblau musste leise lachen bei dieser Schilderung. Dann führten sie ihren Plan aus: schon nach wenigen Minuten stand die mit lecker aussehenden Beeren gefüllte Schüssel vor dem Höhleneingang. Und es dauerte auch nicht lange, bis einige von den Räubern aus der Höhle kamen und die Beeren entdeckten. Gierig wie sie waren, stürzten sie sich brüllend auf ihre Beute, ihr Geschrei lockte natürlich die anderen Räuber und auch die Hexe herbei. Die Unholde stritten und prügelten sich um die Beeren, jeder wollte mehr davon als die anderen essen – in wenigen Augenblicken war die Schüssel leer und alle Bösewichte lagen schnarchend auf dem Boden. Auch die Hexe, ihre eigenen Zauberbeeren versetzten auch sie in tiefsten Schlaf.
Als alle schnarchten, führte Rußschwarzchen das blinde Mädchen in die Höhle hinein. Dort war es dunkel, er konnte sie nun nicht mehr sicher führen. Aber sie ihn – denn dunkel war es für Rosenblau ja immer. Geschickt tastete sie sich an den Höhlenwänden entlang, bald fand sie eine gefesselte Person am Boden. Ihre geschickten Finger spürten die Knoten und lösten sie in einer Geschwindigkeit, die jeden Sehenden bei hellem Tageslicht übertraf. Noch bevor sie den Knebel lösen konnte, mit dem die Gefangene am Sprechen gehindert wurde, wusste sie, dass es das andere Mädchen war, denn sie spürte ein Bein kürzer als das andere.
Der Prinz war ebenso gefesselt und lag nur ein paar Meter weiter. Auch er wurde befreit, bald standen alle draußen in Freiheit. Auf dem schnellsten Weg eilte der Prinz mit seinen Rettern zum Schloss und schickte von dort aus seine Ritter in den Wald, wo sie die schlafenden Räuber und die ebenfalls schnarchende Hexe festnahmen. Letztere wurde so fest in Ketten gelegt, dass sie weder an ihren Zauberstab noch an ihre Zauberkräuter gelangen konnte. Ihrer gerechten Gefängnisstrafe entging auch sie nicht.
Der Prinz hatte das schöne blinde Mädchen aus dem Dorf längst wiedererkannt. Auf den Knien bat er sie um Verzeihung dafür, dass er sie im ersten Moment für dumm und ungeschickt gehalten hatte. Und wenn er schon mal auf seinen Knien war, bat er sie auch gleich, seine Frau zu werden. Rosenblau willigte lachend ein, aber nur, wenn Rußschwarzchen die ganze Belohnung alleine bekam. Die würde er bestimmt brauchen, hatte sie doch längst gespürt, dass die Stimme ihres Jugendfreundes einen ganz besonderen Klang bekam, sooft er von dem armen Mädchen mit der Kinderlähmung sprach.
Und wenn Rosenblau heiratete, wollte Rußschwarzchen das auch. Der Prinz war gerne damit einverstanden, dass die zwei Hochzeiten gemeinsam im Schloss gefeiert wurden.
Das arme Mädchen zog mit ihren Eltern in das Bauerndorf. Dort waren sie dank der Belohnung nun die wohlhabendsten Bauern, alle achteten und ehrten das junge Paar, das alle nur noch mit Herr und Frau Schwarzruß ansprachen.
Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben noch heute alle glücklich.
© 2017 Bertram der Wanderer und die Kinder der Klasse 4c der Grundschule Pullach