… „Rußschwarzchen“, flüsterte Rosenblau besorgt, „da kommt jemand. Zuerst dachte ich, dass ich Schritte höre, aber es ist ein Pferd. Bestimmt mit einem Reiter drauf. Dreh dich mal vorsichtig um. Siehst du, wer da kommt?“
Natürlich tat der Junge, worum sie ihn bat, war er doch selbst neugierig. Eine Weile dauerte es, bis er jemanden erkennen konnte, das Mädchen achtete inzwischen auf das rasche Näherkommen der Pferdegeräusche. Schließlich wisperte ihr Freund: „Ein riesengroßes Pferd. Darauf sitzt ein Mann, den kenne ich nicht. Oder nein, er sitzt nicht drauf. Das ist ja seltsam: unten sieht es aus wie ein Pferd, aber oben wird es zu einem Mann, wie wenn der aus dem Pferderumpf herauswachsen würde.“
Rosenblau fiel etwas ein: „Meine Tante hat mir mal eine alte Sage vorgelesen, da ging es um solche Fabelwesen. Oben Mensch und unten Pferd, man nennt die Zentauer. Aber gibt es das wirklich? Und woher kommt der auf einmal?“
Plötzlich dröhnte eine tiefe Männerstimme aus der Richtung der Huftritte: „Na, ihr zwei Menschlein? Habt ihr euch im Wald verlaufen? Ich will euch gerne helfen!“ Unfreundlich klang die Stimme nicht, trotzdem wollte Rosenblau vorsichtig sein und den wahren Grund ihres „Waldspaziergangs“ nicht verraten. Doch bevor sie etwas von „Beeren suchen“ und „Hunger“ murmeln hätte können, kam ihr der sorglose und gutgläubige Rußschwarzchen zuvor: „Nein, wir haben uns gar nicht verlaufen. Wir suchen die Räuber. Und bald haben wir den Prinzen. Dann kriegen wir alle Weihnachtsplätzchen.“ Er hoffte immer noch fest darauf, dass die Belohnung für die Rettung des Prinzen aus Weihnachtsplätzchen bestand. Eine bessere Belohnung konnte er sich einfach nicht vorstellen.
„Das dachte ich mir“, dröhnte der Bass des Zentauer. „Wir Fabelwesen wissen ja sehr viel. Ich weiß auch, wo derPrinz ist. Kommt nur mit, ich zeige es euch.“
„Prima“, freute sich der Junge und ergriff die Hand des Mädchens, um mit ihr dem Zentauer zu folgen. Rosenblau war gar nicht wohl dabei, sie hatte ein sehr flaues Gefühl im Magen, aber sie konnte es nicht verhindern, Rußschwarzchen zog sie einfach mit. Sie hätte sich losreißen können, aber dann wäre sie ohne Hilfe gewesen, ohne zu wissen, wohin sie sich wenden sollte.
„Was macht er?“, raunte sie dem Nachbarsjungen zu, als sie plötzlich lautes Knacken von Zweigen hörte.
„Er trampelt mit seinen Hufen die Brombeeren nieder. Oh, dahinter ist eine riesige Höhle versteckt, das muss die Räuberhöhle sein.“
Der Eingang musste tatsächlich sehr groß sein, wenn der gewaltige Zentauer hineinpasste. Ob er ihnen wirklich helfen wollte? Sie gingen ihm nach, bald waren sie in der Höhle, das Mädchen merkte es am dumpfen Klang der Schritte und am modrigen Geruch.
Da ertönte wieder die Stimme des Zentauer: „He, Aufwachen ihr Schlafmützen. Es gibt Arbeit. Fesselt die beiden da und legt sie in eine andere Ecke der Höhle, nicht zu dem Prinzen…“
„Wir sind schon da, wir haben dich längst gehört“, brüllte ein andere Männerstimme zurück, dann wurden die beiden Jugendlichen von vielen Händen gepackt. Mit groben Stricken wurden ihnen die Arme auf den Rücken gebunden, in den Mund bekamen sie je einen Knebel, der aus einem alten Lumpen bestand und entsprechend roch. Dann wurden sie an den Rand der Höhle gezerrt und dort auf dem harten Höhlenboden liegen gelassen. Das ungute Gefühl, das das Mädchen gespürt hatte, hatte sich bewahrheitet: der Zentauer hatte sie angelogen und in eine Falle gelockt. Aber ob das wirklich ein Zentauer war?
Noch während sie darüber grübelte, hörte sie eine unbekannte Frauenstimme, die mit den Räubern zu sprechen anfing: „Männer, wir müssen jetzt aufpassen, wenn sogar diese zwei, die fast noch Kinder sind, uns entdeckt haben. Als erstes will ich die Brombeeren wieder vor unseren Höhleneingang zaubern, sonst sind wir ganz ungeschützt. Aber vielleicht müssen wir den Prinzen mitnehmen und uns ein anderes Versteck suchen…“
„Du machst das schon, Hexe, deswegen haben wir dich ja zu unserer Bande geholt. Du kannst dich sogar in diesen Zentner verwandeln, oder wie das heißt. Es ist immer gut, wenn man eine eigene Hexe hat…“ Die anderen Räuber lachten böse. Jetzt verstand Rosenblau, wie der Zentauer so plötzlich aufgetaucht war, dessen Namen sich die Räuber anscheinend nicht merken konnten. Aber für diese Erkenntnis war es nun zu spät: Sie lag gefesselt und geknebelt da, unfähig sich auch nur ein bisschen zu bewegen, Rußschwarzchen neben ihr ebenfalls. Noch wälzte sich dieser ein bisschen hin und her, er versuchte wohl, sich zu befreien, aber es klappte nicht, schließlich gab er auf. Sie hörte nur noch die durch den Knebel behinderten Atemzüge neben sich. Zu dumm, dass sie nicht einmal mit ihrem Freund sprechen konnte.
Wie lange die beiden so dalagen, wer hätte das sagen können? Auch Rußschwarzchen konnte im Dämmerlicht der Höhle, das hauptsächlich von einem kleinen Lagerfeuer herrührte, keine Tageszeit erkennen. Irgendwann ließen die Räuber das Feuer ausgehen. Das Mädchen merkte es daran, dass das Holz im Feuer nicht mehr knackte und es noch kühler wurde. Dann begannen die Räuber zu schnarchen. Wie sollte es weitergehen? Würden die Räuber sie hier einfach liegen lassen, bis sie irgendwann verdursteten? Dass sie arm waren, war ihnen an der Kleidung sofort anzusehen, also würde vermutlich niemand versuchen, für sie Lösegeld zu erpressen…
Rußschwarzchen schlief irgendwann ein, ihr fielen seine langsamen, gleichmäßigen Atemzüge auf. Doch plötzlich vernahm sie noch weitere Geräusche. Leise Schritte kamen näher. Wer schlich da auf sie zu? „Psst, habt keine Angst, ich helfe euch“, flüsterte eine Stimme, die wie die der Hexe klang. Schon machte sich jemand an ihren Fesseln zu schaffen, sie wurden gelöst, ebenso bei Rußschwarzchen. Bevor man ihnen den Knebel abnahm, wurde beiden eingeschärft, bloß still zu bleiben. Auch der Nachbarsjunge begriff, dass dies nun ihre Rettung werden könnte, er verhielt sich absolut ruhig. An den schnarchenden Räubern vorbei wurden sie zu einer anderen Seite der Höhle geführt, wo sie kurz stehen blieben, während auch einer weiteren Person die Fesseln abgenommen wurden. Dann ging es aus der Höhle hinaus, das Mädchen merkte es an der frischen Luft, die sie mit einem Mal atmete.
Dann hörte sie, wie die Hexe zu sprechen anfing. „Ich muss euch alle um Verzeihung bitten. Es war wirkich falsch von mir, dass ich den Räubern geholfen habe. Ich bin arm und wollte auf diese Weise zu Geld kommen, aber einen Prinzen einsperren, das kann ja nicht richtig sein. Und solange es nur um den Prinzen ging, dachte ich: ‚Seine Familie ist reich, die können ruhig mal uns armen Leuten etwas geben.‘ Aber dann habe ich selber ja sogar noch die armen Kinder gefangen.“
„Ich in kein Kind mehr. Ich bin schon siebzehn!“, protestierte Rußschwarzchen.
Die Hexe fuhr fort: „Zuerst habe ich mich noch so verhalten, wie man das als Räuber tut. Aber dann hat es mir leid getan. Deswegen habe ich euch befreit. Ich will euch auch beweisen, dass ich es gut meine: Ich habe Kräuter, mit denen ich Blindheit heilen kann. Und auch der Junge wird sich mit dem Denken leichter tun, wenn er einen Trank aus anderen Kräutern nimmt. Vielleicht werdet ihr mir nicht glauben, nach allem, was auch ich euch angetan habe. Aber helfen will ich euch auf alle Fälle. Ich suche gleich die Kräuter, die ich für die Tränke brauche.“
„Untersteh dich, Hexe!“ Der Prinz hatte die ganze Zeit nicht gesprochen, seine Stimme klang daher rauh und holprig, dennoch spürte man in diesen wenigen Worten, dass es niemand wagen sollte, sich dem Prinzen zu widersetzen. „Wer weiß, ob du den beiden nicht Gift zusammenbraust. Ihr alle kommt jetzt mit mir zum Schloss. Erst wenn wir dort sicher sind, können wir vielleicht so einen Trank ausprobieren. Und sei gewiss: wenn du meinen beiden Freunden etwas antust, wird mein Vater dich sofort hinrichten lassen.“
„Genau“, pflichtete Rußschwarzchen bei, der sich sehr stolz fühlte, vom Prinzen ‚Freund‘ genannt worden zu sein. „Und wenn du dem Prinzen etwas antust, dann verhau ich dich!“ Rosenblau musste lächeln.
Den Rest der Nacht und einen halben Tag mussten sie wandern, bis sie endlich zum Königsschloss kamen, wo die Rückkehr des Prinzen natürlich bejubelt wurde. Der König dankte den Rettern seines Sohnes und wollte ihnen die versprochene Belohnung aushändigen, der Prinz aber hielt ihn zurück: „Natürlich sollen Rosenblau und Rußschwarzchen die 1000 Taler bekommen. Die Hexe aber nichts, sie ist trägt ja eine Mitschuld an meiner Entführung. Doch vorher sollen die Ritter in den Wald reiten und die Räuber verhaften. Und ich habe noch eine wichitge Frage.“ Kurz hielt er inne, dann fiel er vor Rosenblau auf die Knie und bat sie aus ehrlichem Herzen, seine Frau zu werden. Und das Mädchen willigte gerne ein, aber nur unter der Bedingung, dass auch ihr Jugendfreund und die Eltern, die ja so arm waren, glücklich und sorgenfrei im Schloss leben durften.
Und ob ihr es glaubt oder nicht: Die Hexe hatte ihre Fehler wirklich eingesehen und gab sich nun Mühe, alles wieder gut zu machen. Mit ihren Zaubertränken sorgte sie dafür, dass Rosenblau und Rußschwarzchen gesund wurden. Später half sie allen Kranken in der Stadt des Königs, so wurde aus ihr eine weithin bekannte und geachtete Ärztin.
Auf diese Weise lebten alle lange, gesund, glücklich und zufrieden. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.
© 2018 Bertram der Wanderer und die Kinder der Klasse 4c der Grundschule an der Astrid-Lindgren-Straße, München