… Allerdings waren das sehr eigenartige Schritte, die Rosenblau mit ihren besonders geschulten Ohren schon vernahm, als sie kaum sonst ein Mensch hätte hören können. Kleine Füße mit kurzen Beinen, wie von Kindern. Offenbar barfuß, denn mit Schuhen an den Füßen klingen Schritte anders. Aber kleine Kinder gehen meist nicht so behände, wer kam da? Hochkonzentriert versuchte sie jeden Hinweis zu erlauschen: vermutlich drei Personen, relativ klein. Nur wer?
Ihr Freund Rußschwarzchen verharrte ebenfalls regungslos und lauschte. Zwar hatte er keine Ahnung, warum er das tat, aber er tat es seiner Freundin nach, und sein Gespür war gut genug um zu begreifen, dass hier vielleicht eine Gefahr nahte.
Nach wenigen Sekunden fasste ihn Rosenblau am Arm: „Ich weiß nicht, wer da kommt. Schnell, wir müssen uns verstecken,“ flüsterte sie, „ Aber wo? Am besten nicht bei diesen Brombeeren, irgendwo anders. Siehst du was?“
„Auf der anderen Seite vom Weg, da hinter uns, da ist ein dichtes Gebüsch,“ raunte Rußschwarzchen zurück, ohne ein weiteres Wort ergriff er ihren Arm und führte sie fast geräuschlos dorthin, wo sie sich auf den Boden zwischen herabhängende Haselnusszweige und dichten Farn kauerten.
Inzwischen waren diese unbekannten Gestalten näher gekommen, drei tiefe Stimmen nuschelten undeutlich, Rosenblau konnte Fetzen eines gemurmelten Gesprächs vernehmen. „Rußschwarzchen, wer kommt da?“, flüsterte sie.
„Drei kleine Leute,“ gab er ebenso leise zurück. „Ich kenne sie nicht. Sie haben ganz viele Haare und sind recht schmutzig. Da wird ihre Mama aber schimpfen. Obwohl, Kinder sind das nicht…“
Bald blieben die drei stehen, nur wenige Meter entfernt. Sie hoben ihre Nasen und schnüffelten, dann murmelte einer: „Hier ischt jemand. Isch riesche esch.“ Ein anderer bestätigte: „Esch schind schogar tschwei. Aber schie rieschen schehr schauber. Dasch können keine Räuber schein.“ „Da drüben schind schie!“, murmelte der dritte, und schon stapften die drei haarigen Gesellen auf das Versteck der Jugendlichen zu. Dem Mädchen klopfte vor Angst das Herz bis zum Hals. Schon hörte sie, wie jemand die Zweige, hinter denen sie versteckt waren, auseinander bog.
„Da haben wir schie. Wasch tut ihr tschwei hier? Und warum verschteckt ihr eusch?“
„Bitte tut uns nichts. Und ich kann auch nichts sehen, ich bin blind,“ antwortete Rosenblau, so ruhig sie konnte. Sie wusste aus Erfahrung, dass sie Fremden am besten sofort von ihrer Blindheit erzählte, sonst wussten die das nicht und nahmen keine Rücksicht. Wenn sie sich auch nicht vorstellen konnte, wie sehen eigentlich ist.
Inzwischen standen die drei Männchen, die sich als Trolle vorstellten, um sie herum. Sie berichteten, dass sie ebenfalls auf der Suche nach dem Prinzen waren. Der König, der Vater des Prinzen, hatte nämlich einen eigenen Zauberer in seinem Schloss. Und dieser Zauberer hatte die Macht, die Trolle loszuschicken. Deshalb waren die Trolle hier im Wald, von den Rittern des Königs wussten sie, dass die Räuber nicht weit weg sein konnten.
„Das glauben wir auch,“ meinte das blinde Mädchen. „Wir versuchen nämlich auch, den Prinzen zu befreien. Wollen wir uns zsammentun?“ Freudig grunzend stimmten die Trolle zu, dann überlegten alle: Wenn das Räuberversteck nicht weit weg war, dann war es vermutlich eine Höhle hier im Wald. Vielleicht hatten sogar diese eigenartigen Brombeeren mit den Räubern zu tun.
Plötzlich hörten sie von dem Brombeergestrüpp her ein lautes Wiehern. Einer der Trolle machte den anderen ein Zeichen, dann schlich er sich dorthin. Gleich darauf war er zurück und berichtete: „Hinter den Brombeeren ischt der Eingang tschu einer Höhle, die musch tschiemlisch grosch schein. Gleisch am Anfang ischt ein Pferd angebunden, dasch kenne isch ausch dem Schlosch. Esch ischt dasch Pferd desch Printschen.“
Schon entwickelten alle einen genialen Plan: Die drei Trolle schlichen sich in die Räuberhöhle hinein, banden das Pferd des Prinzen los und führten es vor die Höhle hinaus. Dort kitzelten sie es, bis es mehrmals laut wieherte. Dann sprangen sie auf das Pferd und ritten davon, aber nicht zu schnell. Als die Räuber in der Höhle nämlich das Wiehern hörten, rannten sie aus ihrem Versteck, aus Angst, dass ihnen mit dem teueren Pferd auch ein Teil ihrer Beute abhanden käme. Das Pferd wollten sie doch für viel Geld auf dem Viehmarkt verkaufen! Vor der Höhle erblickten sie es und rannten sofort hinterher, auch die Hexe ließ sich vom Jagdfieber anstecken. Ohne an den gefangenen Prinzen zu denken, verfolgten alle das Pferd, das in ausreichender Entfernung vor ihnen durch den Wald trabte.
Inzwischen schlichen sich Rosenblau und Rußschwarzchen in die Räuberhöhle. Bis hinter die Brombeeren führte der Junge das Mädchen, aber in der Höhle tauschten sie die Rollen. Dass es dort dunkel war, machte für Roseblau nämlich keinen Unterschied, sie bewegte sich genauso vorsichtig und geschickt wie immer. Bald hatte sie sich in die Höhle hineingetastet, hatte die Atemzüge und undeutlichen Hilferufe des am Boden liegenden, gefesselten und geknebelten Prinzen gehört, hatte mit ihren flinken Fingern die Knoten der Fesseln gelöst. Der Prinz war befreit, schnell schlichen sie aus der Höhle hinaus, dann führte der Prinz seine zwei Befreier zu Fuß bis zum Schloss. Er hatte schon gehofft, dass der Zauberer seines Vaters die Trolle zu Hilfe schicken würde, und vermutete, dass diese mit ihrer List die Räuber bis in die Nähe der Stadt lockten. So war es auch, und dort war es für die königlichen Ritter ein Leichtes, die Räuber und die Hexe zu verhaften.
Warum sich die Hexe nicht durch Zauberei befreit hat? Der Zauberer hatte nicht nur die Macht, Trollen Befehle zu geben, er hatte sogar die Kraft, der Hexe sämtliche Zauberkräfte wegzunehmen.
Der Vater des Prinzen war natürlich überglücklich, seinen Sohn wohlbehalten wieder im Schloss zu haben. Dem blinden Mädchen und ihrem Freund wollte er sofort die versprochene Belohnung auszahlen. Aber noch bevor das Gold aus der Schatzkammer geholt werden konnte, fiel der Prinz vor Rosenblau auf die Knie und bat sie, seine Frau zu werden. Die willigte ein, aber nur unter der Bedingung, dass auch Rußschwarzchen bei ihnen im Schloss leben durfte. Die Belohnng wollten sie dann gar nicht mehr haben, die schenkten sie den armen Bauern im Dorf.
Der weise Köng erkannte rasch die Probleme, die Rußschwarzchen beim Lernen immer gehabt hatte. Und so gab er diesem einen besonderen Lehrer, der mit viel Geduld dem Jungen dabei half, langsam klüger zu werden.
Und die Trolle? Die sollten auch nicht leer ausgehen. Für ihre Hilfe bedankte sich der König mit einem großen Festmahl, bei dem alles gekocht wurde, was Trolle gerne essen.
Die armen Bauern in dem Dorf dachten nun voll Bewunderung an das blinde Mädchen und den Jungen, die bei ihnen aufgewachsen waren und es so weit gebracht hatten. Geradezu ehrfürchtig sprachen sie von ihnen, und noch in Jahrhunderten werden alle Menschen in der ganzen Gegend gerne von ihnen erzählen.
© 2017 Bertram der Wanderer und die Kinder der Klasse 4b der Grundschule Pullach