… Für das blinde Mädchen Rosenblau war das Hören der wichtigste Orientierungssinn, schon seit sie auf der Welt war. Deshalb hatte sie ihre Ohren so gut traniert, dass sie diese Schritte schon aus weiter Entfernung vernehmen konnte. „Rußchwarzchen, da kommt jemand“, raunte sie ihrem Freund zu. „Es ist eine einzelne Person, es kann ein Räuber sein. Vielleicht verstecken wir uns besser. Siehst du, wo…?“
Der Junge begriff instinktiv, dass er leise und besonders auf der Hut sein musste. Daher flüsterte er nur zurück: „Bei dem großen Brombeergestrüpp vor uns. Es gibt eine Stelle an der Seite, da kann man dahinter kriechen. Dort sucht uns bestimmt keiner.“
Rosenblau wisperte einige Bedenken: „Vorsicht, diese Brombeeren müssen giftig sein. Reife Brombeeren kann es jetzt im Mai nicht geben. Du darfst auf keinen Fall eine Beere essen! Und Brombeerzweige haben scharfe Dornen, da werde ich mir die Haut aufreißen.“
„Aber nein!“ Rußschwarzchen war empört, doch zum Glück vergaß er das Wispern nicht. „Ich passe schon auf dich auf!“ Dann ergriff er wieder ihre Hand, die er während des Flüsterns losgelassen hatte, und zog sie ganz langsam nach unten. Die beiden waren es gewohnt, gemeinsam unterwegs zu sein. Seit ihrer frühesten Kindheit waren sie zusammen, sooft es die Eltern erlaubten. Dass sie nichts sehen konnte, war für ihn normal wie das Atmen, er musste nicht darüber nachdenken, er schaute einfach für sie mit. Wenn das Mädchen die Muskeln ihrer Hand, an der er sie führte, ein bisschen angespannt hielt, dann konnte er ihr mit leichtem Druck die Richtung anzeigen, in die sie sich wenden sollte. Auf diese Weise dirigierte er sie nun in die Hocke, dann kroch sie hinter ihm hinter das Brombeergestrüpp, wobei er die stacheligen Zweige stets von ihr fern hielt und oft sogar seine eigene Hand über die Haut des Mädchens legte, um sie zu schützen. Das alles geschah so schnell, dass die Person, zu der die Schritte gehörten, sie noch nicht hatte bemerken können, bis sie hinter den Brombeersträuchern auf dem Boden kauerten.
„Siehst du, wer da kommt?“, hauchte Rosenblau kaum hörbar.
„Leider ja!“, antwortete er ebenso leise. „Eine Frau, sie hat einen schwarzen Mantel an und einen großen schwarzen Schal. Ich kenne sie nicht. Sie schaut unfreundlich aus.“
„Dann gehört sie vermutlich zu den Räubern. Fliehen können wir nicht mehr, dazu ist sie bestimmt schon zu nahe. Ich glaube, wir haben nur eine Chance: Pflück mal eine oder zwei von diesen eigenartigen Beeren. Aber iss sie auf keinen Fall! Zerdrücke sie, bis Saft herausfließt, und den reibst du dir und mir an die Fingerkuppen, damit jeder denkt, wir hätten Beeren gegessen. Und dann legen wir uns hier auf den Boden und stellen uns tot. Aber du darfst nicht blinzeln! Wenn die Räuberin denkt, dass wir uns vergiftet haben, lässt sie uns vielleicht einfach liegen.“
Noch während sie sprach, begann Rußschwarzchen den Plan auszuführen. Weil sie sich ganz auf die nahenden Schritte konzentrierte, bemerkte sie nicht, dass der Junge mehr als nur zwei Beeren abriss. Sonst hielt er sich genau an ihre Anweisungen, wusste er doch, dass er für sie sehen und sie für ihn denken konnte. Zusammen würden sie alles schaffen, daran gab es für ihn keinen Zweifel.
Zusammengekrümmt und eng an einander geschmiegt lagen die beiden Freunde nun auf dem harten Boden und versuchten, sich absolut nicht zu bewegen. In Gedanken betete das Mädchen, dass alles gut ausgehen möge, waren sie doch in größter Gefahr. Die Räuberin war jetzt direkt auf der anderen Seite des Brombeergestrüpps, plötzlich blieb sie stehen und murmelte: „So, da bin ich mit den Kräutern, die ich gesucht habe. Aber ich krieche natürlich nicht zwischen den Dornen herum, ich bin ja nicht blöd.“ Dann kicherte sie kurz und brummte ein paar unverständliche, geheimnisvolle Worte – schon lösten sich die dichten Brombeersträucher wie durch Zauberhand in Luft auf. War das gar keine Räuberin, sondern eine Hexe? Noch ehe Rosenblau die Frage zu Ende denken konnte, rief die Hexe schon erstaunt aus: „Ja, wen haben wir denn da? Zwei Jugendliche, eine Göre und einen Bengel! Sie schauen arm aus, bestimmt haben sie von meinen Beeren genascht. Dann will ich doch mal sehen, ob mein Zauber auch schön gewirkt hat…“ Schon stapfte sie direkt auf die beiden zu, Rosenblau schickte nur noch ein Stoßgebet zum Himmel, während die Hexe sich voll böser Freude die Hände rieb und prüfend über die beiden beugte. Genau in diesem Moment riss Rußschwarzchen eine Hand hoch und schleuderte mit einer blitzschnellen Bewegung der Hexe etwas in den gierig geöffneten Mund. Dem Mädchen blieb vor Schreck beinahe das Herz stehen! Was tat er da? Sie konnte es ja nicht sehen, nur undeutlich spürte sie die Bewegungen um sich herum. Die Hexe musste sich verschluckt haben, denn sie würgte und hustete, dann gab es neben Rosenblau einen heftigen Plumps – die Hexe stürzte bewusstlos zu Boden.
Rußschwarzchen hatte begriffen, dass die Beeren sehr giftig sein mussten und hatte ein paar mehr abgepflückt, als er und das Mädchen zu ihrer Tarnung brauchten. Giftige Beeren, das war eine gute Waffe! Und diese Waffe hatte er nun zielsicher eingesetzt: er hatte die Beeren, die er zuvor in seiner Faust gehalten hatte, dirket in den Mund der Hexe geschleudert. Genug Beeren, dass diese durch ihren eigenen Zauber ausgeschaltet war! Leise schnarchend lag sie auf dem Boden direkt vor dem Eingang zur Räuberhöhle. Denn dass hinter den inzwischen auf magische Weise verschwundenen Brombeeren der Eingang zu einer großen Höhle verborgen war, das sah Rußschwarzchen nicht nur, das spürte auch Rosenblau, als sie sich nun tastend aufrichtete.
„Schnell, Rußschwarzchen, wir müssen diese Hexe irgendwohin schleppen, wo sie niemand sehen kann, am besten gefesselt.“
Fast über beide Ohren grinsend begann der Junge, in seinen Taschen zu kramen. Dort hatte er immer ein Sammelsurium von allen möglichen Dingen, die meisten davon hatte er irgendwann einmal gefunden. Unter seinen „Schätzen“ wusste er auch eine feste Schnur – mit wenigen Handgriffen war die Hexe gefesselt, „Hinter dir ist ein dicker Baum, dahinter können wir die Hexe und uns auch noch verstecken.“ Trotz seiner Aufregung vergaß Rußschwarzchen nicht, dass er die Lage des Baumes nicht anzeigen sondern beschreiben musste, damit seine Freundin verstand.
Nach wenigen Augenblicken hatten die beiden die leise schnarchende Hexe hinter den Baum gezerrt. Dann drehten sie sie auf die Seite, wo sie nun leise atmete, in langen, tiefen Atemzügen, wie Schlafende das so tun. Aber wie lange würde der Zauber wirken?
Zum Glück bemerkten die Räuber, die vermutlich in der Höhle waren und dort vielleicht sogar den gefangenen Prinzen bewachten, nichts davon. In Rosenblaus Kopf arbeitete es fieberhaft, dann hatte sie einen Plan geschmiedet. Hier in diesem Versteck wollten sie eine Weile ausharren und abwarten, ob sich Räuber zeigten. Und dann gegebenenfalls in der Nacht zuschlagen.
Tatsächlich kamen bald zwei Männer mit zotteligen Bärten und schmutziger Kleidung an den Höhleneingang und spähten in alle Richtungen. „Die Hexe muss dagewesen sein“, knurrte einer, „die Brombeeren sind weggezaubert. Vielleicht ist sie nochmal auf Kräutersuche gegangen.“ Dann zuckten beide mit den Schultern und verschwanden wieder in der Tiefe der Höhle.
Noch dreimal hielte die Räuber vergeblich Ausschau nach der Hexe, dann wurde es an diesem Frühlingsabend langsam Nacht. Rußschwarzchen berichtete seiner Freundin, dass es schon sehr dämmrig war, und sie erklärte ihm den zweiten Teil ihres Plans: Er sollte nun alleine hier bleiben und die gefangene Hexe bewachen. Sie wollte sich im Dunklen in die Höhle schleichen. Bestimmt schliefen die Räuber schon, dann könnte sie versuchen, den Prinzen zu befreien. Sie hoffte sehr, dass die Räuber in ihrer Höhle nachts keine Kerze oder Fackel brennen ließen (dabei rechnete sie damit, dass das für die Räuber wohl zu kostspielig war). Niemand würde sie dann sehen können – aber für sie war Dunkelhet kein Hindernis, sondern der Normalzustand. Vorsichtig wollte sie in der Höhle nach dem gefangenen Prinzen suchen – mit ihrem feinen Gehör würde sie sich anhand der Atemgeräusche der Räuber weit genug von diesen fernhalten können.
„Aber ich komme mit! Ich helfe dir!“, protestierte Rußschwarzchen im Versteck mit hängenden Schultern und zog eine Schnute, die seine Freundin sogar hören konnte. Diese jedoch erwiderte: „Das geht nicht. Du musst hier bleiben und die gefesselte Hexe bewachen. Wenn sie aufwacht, musst du mich rechtzeitig warnen, sonst verzaubert sie mich. Ohne dich kann ich das nicht schaffen! Die Hexe bewachen kannst nur du, nur du kannst sehen, wenn sie aufwacht!“ Schon hatte sich der Junge wieder aufgerichtet und nickte so eifrig, dass jeder seine Freude über diesen wichtigen Auftrag spürte.
Und dann ging alles einfacher, als das Mädchen sich hätte träumen lassen. Die schnarchenden Räuber konnte sie nicht nur sehr gut hören, auch ihre ungewaschene Kleidung zeigte ihr mit dem typischen, säuerlichen Geruch deutlich an, wo sich die Räuber befanden. Auf der anderen Seite der Höhle stellte das Parfum des Prinzen einen sehr angenehmen Kontrast dazu dar! Ohne einen Laut zu verursachen war sie schon bei ihm und tastete mit ihren geschickten Händen nach den Knoten in den Stricken, mit denen er gefesselt war. Davon erwachte der Prinz, aber er spürte sofort, dass seine Rettung gekommen war. Nach wenigen Minuten hatte sie schon wieder den Höhleneingang erreicht, wobei sie den Prinzen an der Hand hinter sich herzog, ähnlich wie es sonst Rußschwarzchen bei ihr machte.
Genau in dem Moment, als sie mit dem Prinzen den Höhleneingang erreichte, blitzte der Mond mit hellem Silberlicht hinter einer großen Wolke hervor. Rußschwarzchen erblickte seine Freundin und jubelte mit einem gemurmelten „Gott sei Dank!“.
Der Prinz aber erkannte in seiner Retterin nun das schöne Mädchen, das er tags zuvor in dem kleinen Bauerndorf gesehen hatte. Er fiel vor ihr auf die Knie und bat sie, seine Frau zu werden.
Sie jedoch schüttelte lächelnd den Kopf: „Königliche Hoheit, Ihr Antrag bedeutet eine große Ehre für mich. Aber ich bin ein einfaches Bauernmädchen, noch dazu blind, für ein Leben in einem Königsschloss bin ich nicht geschaffen. Und mein Herz habe ich längst meinem Freund Rußschwarzchen geschenkt. Zwar ist er nicht sehr klug, aber er hat ein Herz aus Gold und es gibt niemanden auf der Welt, der so liebevoll für mich sorgt wie er.“
„Ist doch klar, dass wir zwei heiraten“, bestätigte der Junge eifrig.
Der Prinz stutzte, doch dann lächelte er: „Gegen eine solche Liebe könnte nicht einmal ein Kaiser Einwände erheben. Kommt mit mir zum Schloss, mein Vater will euch gewiss danken. Ich habe mitbekommen, wo die Räuber mein Pferd versteckt halten. Es ist stark, auf ihm können wir auch zu dritt reiten. Die Hexe, die ihr da gefesselt habt, lassen wir lieber hier. Hoffentlich schläft sie lange genug, dass meine Ritter sie problemlos in den Kerker bringen können.“
Auf diese Weise kamen die drei noch vor dem Morgengrauen beim Schloss an, wo der König, der aus Sorge um seinen Sohn kein Auge zugetan hatte, den Prinzen glücklich in die Arme schloss.
Unverzüglich wurden die Ritter in den Wald geschickt, der Prinz konnte ihnen ja genau den Weg zur Räuberhöhle beschreiben. Die Räuber und die Hexe gegfangen zu nehmen, ging buchstäblich wie im Schlaf. Letztere wurde von den Rittern noch zusätzlich mit dicken Stricken und eisernen Ketten gefesselt und so geknebelt, dass sie keine Zauberworte murmeln, keine Zauberzeichen machen und keine Zauberkräuter greifen konnte. Alle landeten im finstersten Kerker des Schlosses.
Rosenblau und Rußschwarzchen bekamen die vom König versprochene Belohnung von eintausend Goldtalern und kehrten glücklich in das Dorf zurück, wo sie bald heirateten. Nun wurden sie von allen Bewohnern des Dorfes geehrt und bewundert. Ihren Reichtum setzten sie so klug ein, dass sie ihr ganzes Leben sicher und zufrieden leben konnten.
Die Hexe aber sah im Gefängnis bald ihre Fehler ein und bat alle Menschen um Verzeihung für ihre Untaten. Und damit sie ihre Fehler wenigstens ein bisschen wieder gutmachen konnte, verriet sie, welche Kräuter die nötigen Heilkräfte besaßen, damit Rosenblau wenigstens ein bisschen sehen und Rußschwarzchen besser denken konnte. Und weil sie auch noch versprach, dass sie niemals mehr etwas Böses anstellen wollte, erließ der weise König ihr und den Räubern einen Großteil der Strafe. Nach fünf Jahren Haft kamen sie wieder frei und lebten fortan ein friedliches Leben.
Sie alle waren glücklich und zufrieden, und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute
© 2019 Bertram der Wanderer und die Kinder der Klasse 3b der Grundschule Grafing (b. Mchn.)