… Als das blinde Mädchen die Geräusche dieser Schritte vernahm, wunderte sie sich ein bisschen. Langsam und gleichmäßig waren die Schritte, aber die Schuhe schleiften immer über den Boden, wie es manchmal bei alten Leuten der Fall ist, denen es schwer fällt, die Beine zu heben. Trotzdem klangen die Schritte kräftig, wie bei jungen Muskeln. „Rußschwarzchen, schau dich mal vorsichtig um, da kommt jemand. Wer ist das?“, flüsterte sie, und der Junge begriff sofort, dass er leise sein musste.
„Ich sehe sie, eine junge Frau“, gab er ebenso flüsternd zurück. „Sie hat was Schwarzes an. Und eine Art schwarzen Schal. Aber sie geht komisch, die Hände vorgestreckt. Vielleicht ist sie auch blind, so wie du.“
„Bestimmt nicht.“ Da war sich Rosenblau sicher: „Dann würde sie viel leiser gehen und mit den Füßen mehr tasten, wie ich es immer mache. Schwarz gekleidet ist sie, vielleicht gehört sie zu den Räubern? Aber dafür ist sie zimelich laut. Besser wir verstecken uns. Siehst du ein gutes Versteck?“
„Ja, bei den Brombeeren. Der Strauch ist dicht.“
„Nein, die sind mir nicht geheuer“, mahnte Rosenblau. „Reife Brombeeren im Mai, da stimmt auch etwas nicht. Gibt es ein anderes Versteck?“
„Ich weiß nicht…“
„Gut, dann legen wir uns einfach hier auf den Boden. Tu so, als ob du schlafen würdest. Vielleicht bemerkt sie uns nicht. Oder sie denkt, dass wir ein Nickerchen machen, und lässt uns in Ruhe.“ Schon half ihr der treue Nachbarsjunge beim Hinlegen, wobei er behutsam ihren Kopf auf weiches Gras bettete, damit sie sich nicht an einem Stein stieß. Und er hatte auch begriffen, dass er nicht mit lauten Schnarchgeräuschen „Schlafen“ spielen sollte, sondern den Eindruck wirklichen Schlafens erwecken.
Die seltsame Frau war inzwischen ziemlich nahe gekommen, aber sie veränderte ihren Gang nicht. Anscheinend hatte sie sie wirklich nicht bemerkt. Ob ihre List glückte? Mit einem Mal stockte das schlurfende Gehen der Frau, sie war wohl ein bisschen über einen kleinen Ast gestolpert, dann fing sie sich wieder, man hörte ein tiefes Seufzen, und dann ihre Stimme: Oh, wo bin ich? Ich wollte doch nur ein kleines Nickerchen… Ach herrje, ich bin ja mitten im Wald. Ich muss wohl schon wieder schlafgewandelt sein. Da vorne ist unsere Höhle. Aber wer liegt davor?“ Ihre Stimme wurde in freudiger Erregung lauter: „Ah, das ist ja gut. Schon wieder haben zwei aus dem Dorf von meinen Zauberbrombeeren gegessen. Haha, der Zauber wirkt, sie schlafen wie die Murmeltiere.“ Auf schnellen Schritten kam diese Frau nun näher. Ob sie eine Hexe war? Offenbar, ihren eigenen Worten nach zu urteilen. Mit schnellen Handgriffen tastete sie am Körper der beiden Jugendlichen entlang, und Rosenblau hoffte inständig, dass ihr Freund sich weiter schlafend stellte. Der schaffte das wirklich. Dann murmelte die Hexe: „Blöd, die haben ja gar nichts in ihren Taschen. Arme Kinder, zumindest nicht viel älter.“ Dann brüllte sie plötzlich los: „He, ihr Räuber! Kommt heraus, ihr Schafmützen! Da sind wieder zwei, die beinahe unsere Höhle entdeckt hätten. Aber die Zauberbrombeeren haben es wieder verhindert. Schleppt sie zu den Bauern, dort können sie sich einen ganzen Tag lang ausruhen, Hihi.“
Auf diesen Befehl der Hexe rannten viele Männer aus der Höhle, vielleicht zehn oder zwölf, genau konnte Rosenblau das nicht hören. Von allen Seiten wurde sie von groben Händen gepackt, die ihre Taschen durchsuchen wollten, aber die Hexe gebot den Männern Einhalt: „Ihr braucht sie nicht durchsuchen, die haben nichts, ich hab schon nachgesehen. Schleppt sie zu den schlafenden Bauern!“
Sollten die beiden Freunde jetzt wirklich auf dem harten, steinigen Waldboden fortgeschleift werden? Dann würden sie sich kaum weiterhin schlafend stellen können. Zum Glück hatten die Räuber ein bisschen Mitleid mit den armen Jugendlichen, die noch dazu so dünn waren, dass man sie leicht tragen konnte. An Schultern, Hüften und Knien fühlte sich Rosenblau hochgerissen und fortgetragen, offenbar hatten sich drei Räuber diese Arbeit geteilt. Und Rußschwarzchen erging es nicht anders. ‚Hoffentlich hält er die Augen geschlossen‘, fuhr es ihr durch den Kopf, während sie versuchte, die Schritte des Räubers links von ihrem Kopf mitzuzählen und sich jede Richtungsänderung einzuprägen. Als Blinde war sie es gewohnt, sich auf diese Weise immer eine Art Landkarte ihrer Wege im Kopf abzuspeichern.
Eine gute Viertelstunde später blieben die Räuber, die sie trugen, plötzlich stehen. Direkt in der Nähe hörte sie die schnarchenden Atemgeräusche vieler Männer, da plötzlich ließen die Räuber sie fallen, und sie landete nicht sehr sanft auf dem grasigen Boden am Waldrand. Neben sie plumpste Rußschwarzchen, dann drehten sich die Räuber um und stapften davon.
Als sie deren Schritte nicht mehr hören konnte, flüsterte sie: „Rußschwarzchen, schau mal vorsichtig, ob die weg sind.“
„Ja, sind sie. Aber gleich neben uns liegen die Bauern aus unserem Dorf. Dein Vater ist auch dabei, und dort vorne ist meiner. Sind die vielleicht … tot?“ Man spürte die Angst in seiner Stimme, aber das Mädchen beruhigte ihn sofort: „Nein, keine Sorge, die haben nur die Schlafbeeren dieser Hexe gegessen. So hat sie es ja selbst gesagt. Nach spätestens einem Tag werden sie aufwachen. Aber vorher werden wir zwei den Prinzen befreien…“
„Wie denn?“ Das platze geradezu aus Rußschwarzchen heraus, aber zum Glück konnte ihn niemand hören. Seine Freundin musste lächeln, dann erklärte sie ihm ihren Plan: Er sollte sie zurück zur Räuberhöhle führen, die sich, wie sie nun wusste, direkt hinter den Brombeeren befand. Den Weg dorthin hatte er sich zwar nicht merken können, weil er brav seine Augen geschlossen gehalten hatte, aber sie hatte ihn sich ja einprägen können. Dann wollten sie eine Möglichkeit suchen, die Räuber mit ihren eigenen Zauberbeeren zu vergiften.
Und siehe da, das gelang wirklich: Direkt am Eingang der Höhle fand Rußschwarzchen einen großen Korb mit Pilzen, die die Räuber wohl im Herbst gesammelt und hier in die Zugluft zum Trocknen gestellt hatten. Jetzt im Frühjahr fand man noch nicht viel Essbares im Wald, bestimmt würden die Räuber sich bald Pilzsuppe kochen. Rußschwarzchen sollte eine große Handvoll der verzauberten Beeren darunter mischen. Rosenblau schätze die Räuber nämlich als nicht besonders sorgfältige Köche ein, gewiss würden sie sich nicht die Mühe machen, ihre Pilze im Dämmerlicht der Höhle genau zu untersuchen. Hoffentlich mussten sie nicht zu lange warten, bis die Räuber Hunger bekamen.
Und wieder hatten die beiden Freunde Glück. Kaum dass Rußschwarzchen den ersten Teil des Planes (nämlich das Einschmuggeln der Beeren in die Pilzkörbe) ausgeführt hatte und sie sich unweit der Höhle in einem Gebüsch versteckt hielten, hörte sie, wie am Eingang der Höhle die Hexe befahl: „He, Räuber, kommt mal her und holt die trockenen Pilze. Ich hab Hunger. Warum sollen wir die noch lange aufsparen? Bald sind wir reich, wenn wir das Lösegeld für den Prinzen haben…“ Sie kicherte böse.
Eine halbe Stunde später drang der wundervolle Duft von Pilzsuppe aus der Höhle heraus. ‚In einer Stunde schleichen wir uns vorsichig hinein‘, überlegte das blinde Mädchen. ‚Dann werden die Räuber und die Hexe bestimmt genug gegessen haben, dass sie tief schlafen. Hoffentlich haben sie dem Prinzen nichts von der Suppe abgegeben. Aber ich glaube, dazu sind die zu gierig.“
Natürlich hatte Rosenblau Recht: Der Prinz war der einzige in der Höhle, der nicht in tiefstem Schlummer lag. Zusammen mit Rußschwarzchen konnte sie jetzt leicht in die Höhle schleichen – ihre geschickten Hände lösten die Fesseln des Prinzen auch in der Dunkelheit in Windeseile, denn die Dunkelheit machte für sie ja keinen Unterschied.
Zusammen mit dem erleichterten Prinzen eilten sie daraufhin zum Schloss, was dank des Pferdes des Prinzen, das die Räuber ganz in der Nähe an einen Baum gebunden hatten, sehr schnell möglich war. Der König dankte den beiden Jugendlichen überglücklich für die Rettung seines Sohnes und wollte ihnen gerne die versprochene Belohnung von tausend Goldtalern zahlen, aber der Prinz bat ihn, noch ein wenig zu warten. Sofort schickte er nämlich seine Ritter in den Wald, die die noch immer schlafenden Räuber samt der Hexe verhafteten. Letzterer nahmen sie dabei sämtliche Zauberkräuter und auch den Zauberstab weg, so dass sie sich auch nicht durch Hexerei ihrer Strafe entziehen konnte.
Dann aber kniete sich der Prinz mit ernstem Gesicht vor Rosenblau auf den Boden und bat sie mit vor Aufregung zitternder Stimme, seine Frau zu werden. Das Mädchen willigte lachend ein, aber nur unter der Bedingung, dass auch ihr Freund Rußschwarzchen im Schloss leben durfte.
Und das sollte auch für ihn zum nie erträumten Glück führen: Denn hier im Schloss war er, der er doch Süßigkeiten so gerne mochte, ein häufiger Besucher in der Schlossküche, wo er sich bald mit einem Küchenmädchen anfreundete. Die verstand sich nämlich besser als alle anderen darauf, besonders ausgefallene Weihnachtsplätzchen zu backen. Und wie es das Schicksal wollte, verliebten auch diese beiden sich in einander.
Alle Glocken der Schlosskirche läuteten, als wenige Wochen später eine glänzende Doppelhochzeit gefeiert wurde. Beide Paare lebten glücklich im Schloss, und wenn sie nicht gestorben sind, dann backt Rußschwarzchens Frau auch heute noch an besonderen Festtagen ihre wundervollen Weihnachtsplätzchen.
© 2018 Bertram der Wanderer und die Kinder der Klasse 2c der Grundschule an der St.-Konrad-Straße, Haar