… Sehr langsam waren diese Schritte, sie hörten sich schlurfend an, wie bei jemandem, der alt und ein bisschen beleibt ist und auch noch schwer trägt. „Psst, Rußschwarzchen“, flüsterte Rosenblau. „Da kommt jemand. Besser wir verstecken uns. Siehst du, wo das gehen könnte?“
Ihr Freund musste nicht lange überlegen, denn das Versteckspiel mochte er gerne. Wie lange hatten sie nicht mehr Verstecken gespielt! Begeistert raunte er zurück: „Na klar, bei diesem großen Brombeerstrauch direkt vor uns. Seitlich gibt es eine Art ganz schmalen Weg, da kann man dahinter kriechen. Anscheinend haben hier schon oft Leute Verstecken gespielt. Ich führe dich, damit du dir an den Dornen nicht weh tust.“ Instinktiv hatte er begriffen, dass er trotz seiner Begeisterung leise sein musste. Also ergriff er behutsam ihre Hand und dirigierte sie sehr umsichtig seitlich an den Brombeerzweigen mit den vielen Dornen vorbei hinter das Gestrüpp. Dort kauerten sie sich mucksmäuschenstill auf den Boden. Rosenblau lauschte angestrengt, alle ihre Sinne waren angespannt.
Bald nahm sie einen modrigen Geruch war, er kam von hinten. In dieses Feuchte, Erdige mischten sich sehr gut duftende Schwaden, wie von frischem Kuchen. Was konnte das sein? Sie tastete vorsichtig mit einer Hand hinter sich. Zunächst spürte sie den Felsen, der hinter ihr aufragte, zwischen den großen Steinblöcken wuchsen Pflanzen – doch plötzlich eine scharfe Kante: hier gab es eine Öffnung im Felsen, vielleicht eine Höhle? „Rußschwarzchen, was ist da hinter uns?“, wisperte sie.
„Ein tiefes, dunkles Loch, das muss eine Höhle sein.“ Sie schien dem Jungen nicht zu gefallen, denn er wandte seine Aufmerksamkeit gleich wieder den sich immer noch langsam nähernden Schritten zu. Das Mädchen aber schnupperte nochmals in diese Höhle hinein. Wieder vernahm sie den süßen Kuchenduft, da fiel ihr ein, was sie am Vormittag im Dorf gehört hatte: Die Frauen hattten Kuchen gebacken, um damit die Räuber zu überlisten. Ob das dieser Kuchen war? Dann war es auch sehr wahrscheinlich, dass genau hier hinter diesen eigenartigen Brombeeren der Eingang zur Räuberhöhle verborgen war. Noch einmal zog sie tief die Luft in die Nase. Jetzt musste sie sich Mühe geben, nicht vor Überraschung laut herauszuplatzen: ganz schwach drang der Duft vom Parfum des Prinzen bis hierher. Also hatten sie die Räuberhöhle gefunden, der Prinz war hier gefangen! Aber was für Schritte waren das? „Siehst du schon, wer da kommt?“ flüsterte sie.
„Der gefällt mir gar nicht“, gab Rußschwarzchen ebenso leise zur Antwort. „Ganz dunkel angezogen, ein bisschen schmutzig. Er hat eine lange Rute in der Hand, und einen großen Sack.“
Seine Freundin erschrak: „Das ist bestimmt ein Räuber, er darf uns nicht entdecken. Aber aus diesem Versteck können wir nicht heraus, sonst sieht er uns.“
„Dann weiter hinein in die Höhle“, wusste der Junge Rat. „Da gibt es mehrere Abzweigungen und dunkle Nischen, wenn wir Glück haben, bemerkt er uns nicht.“ Schon zog er sie gleich hinter dem Höhleneingang in den finstersten Winkel, den er ausmachen konnte. Hier vernahm Rosenblau auch leises Gemurmel aus der Tiefe der Höhle, vermutlich von den dort wartenden Räubern. Die beiden Freunde drückten sich so flach wie möglich gegen die klamme, harte Felswand, sie wagten kaum zu atmen.
Der dunkle Mann kam zielstrebig näher, jetzt raschelte es bei den Brombeersträuchern, schon kroch er hindurch und stapfte in die Höhle hinein. Besonders leise war er nicht, und er schien sich hier auszukennen. Dumpf klang der Widerhall seiner Schritte von den Felswänden zurück, er ging an den beiden Freunden vorbei direkt in die Höhle hinein. Hatte er sie wirklich nicht bemerkt? Waren sie gerettet? Rosenblau wagte noch nicht zu hoffen. Jetzt blieb der Mann stehen und brüllte in die Höhle: „He, Räuber. Kommt her zu mir und holt euch eure Tracht Prügel ab. Oder noch besser: Ich will euch in meinen Sack stecken. Ich bin es, der Krampus. Und ich bin gekommen, um euch zu bestrafen. Wie ich alle Bösen bestrafe, im Auftrag des Nikolaus.“
Rußschwarzchen begriff kein Wort von dieser Rede, aber in Rosenblaus Kopf arbeitete es fieberhaft: Der Krampus? Dann war das gar kein Räuber? Sondern einer, der zu den Guten half und die Bösen bestrafte? Das könnte ihre Rettung sein…
Aber noch ehe sie neue Hoffnung zu schöpfen vermocht hätte, ertönte eine Frauenstimme aus der Tiefe der Höhle: „Krampus? Und du wagst es, dich gegen mich zu stellen? Du Trottel! Ich bin es, die Hexe, die diese Räuberbande anführt. Mit dir werde ich leicht fertig!“ Es folgten ein paar undeutlich gemurmelte Zauberworte und ein seltsam brummendes Geräusch. Anschließend kicherte die Hexe böse: „Atme nur tief ein, du blöder Krampus. Hier, riechst du ihn? Meine Spezialmischung! Der grässlichste Zauberfurz, den selbst der Teufel in der tiefsten Höllenschlucht nicht furchtbarer hervorbringen könnte!“ Vor Schreck hielten Rosenblau und Rußschwarzchen den Atem an. Gleichzeitig gab es einen lauten, dumpfen Schlag: der Krampus war durch den Gestank bewusstlos umgefallen. Im selben Moment jedoch gab es einen gewaltigen Tumult in der Räuberhöhle: alle Räuber und die Hexe hielten sich ihre schwarzen Schals vor die Nasen und stürmten nach draußen. In ihrem magischen Eifer hatte die Hexe nämlich vergessen, dass auch sie selbst und ihre Kumpane dem Gestank dieses Furzes ausgesetzt waren. So suchten sie alle nun ihr Heil in der Flucht, wobei sie natürlich nicht auf die unweit des rettenden Ausgangs kauernden Jugendlichen achteten. Für diese war die Nähe der Höhlenöffnung allerdings die Rettung, denn der Gestank wurde hier durch die mäßig hereinziehende Außenluft abgemildert.
Und der Prinz? Er lag ja gefeselt mitten im Furz der Hexe? Aber er wusste sich zu helfen und drückte mit den gefesselten Händen, so schnell und fest er konnte, auf den Ballon, mit dem er den Zerstäuber an seinem Parfumflakon bediente. Diesen hatte er zum Glück in seiner Jackentasche und er konnte ihn trotz der Fesseln erreichen. So rettete ihn eine angenehm wohlriechende Duftwolke vor dem zerstörerischen Hexenfurz.
Anhand dieses Parfums konnte Rosenblau auch leicht den Prinzen ausmachen. Nur minimal atmend tastete sie sich problemlos durch die stinkende Dunkelheit in der Höhle – sie war ständige Dunkelheit ja gewohnt. Erst als sie in die Duftwolke des Prinzen eintauchte, holte sie wieder richtig Luft. Zugleich tasteten ihre geschickten Hände nach den Knoten in den Stricken, mit denen der Prinz gefesselt war. Und weil sie das Öffnen von Knoten schon oft blind geübt hatte, war der Prinz auch rasch befreit. Sie zog ihn an der Hand hinter sich her zum Ausgang, denn sie hatte sich genau die Anzahl ihrer Schritte gemerkt, als sie zum Prinzen geeilt war. Dort fingen sie auch Rußschwarzchen in ihre Parfumwolke ein, der sich inzwischen mit dem Zufächeln von Frischluft „über Wasser gehalten“ hatte.
Der Rest der Geschichte ist gleich erzählt: Der Prinz hatte mitbekommen, wo die Räuber sein Pferd angebunden hatten. Auf diesem ritten die drei nun schnellstens zum Palast, wo der König seinen geretteten Sohn glücklich in die Arme schloss. Dann gab der Prinz seinen Rittern die Anweisung, in den Wald zu reiten und die Räuber samt Hexe gefangen zu nehmen. Was diesen auch ohne Schwierigkeiten gelang, waren die Räuber doch noch immer krank vor Gestank. Aber warum konnten die Ritter auch die Hexe in den Kerker werfen? Um diesen wahnsinnigen Hexenfurz hervorzubringen, hatte die Hexe all ihre magischen Kräfte aufgebraucht. Ohne Zauberkräfte war sie nun hilflos und landete mit ihren Kumpanen im Kerker.
Und der bewusstlose Krampus? Den rettete zum Glück der Heilige Nikolaus höchstpersönlich. Weil Nikolaus ja alles weiß, wusste er auch von der lebensbedrohlichen Notlage seines Helfers und so rauschte er auf seinem Schlitten an und brachte Krampus zur Rettung in die reinste Himmelsluft hinauf.
Wenig später bat der Prinz das blinde Mädchen Rosenblau, seine Frau zu werden. Sie willigte gerne ein, aber nur unter der Bedingung, dass auch ihr Freund Rußschwarzchen mit ihnen zusammen im Schloss wohnen dürfe. Der König gab dazu lächelnd seine Zustimmung. Für Rußschwarzchen wurde im Schloss ein schönes, großes Zimmer bereitgestellt und der Hofbäcker bekam die königliche Anweisung, stets eine ausreichende Auswahl an Weihnachtsplätzchen für Rußschwarzchen zu backen.
So lebten sie alle lange glücklich und zufrieden im Schloss. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann benutzt der Prinz noch heute gelegentlich und in sparsamen Mengen sein Lieblingsparfum.
© 2019 Bertram der Wanderer und die Hortkinder im Haus für Kinder „Wunderland“ der JUH, Eching