… Zuerst dachte Rosenblau aber überhaupt nicht an Schritte, sondern an ein sich ankündigendes Erdbeben, denn der Boden unter ihren Füßen begann in langsamem Rhythmus zu zittern und zu Beben. Erst nur ganz leicht, aber dann zunehmend stärker. ‚Was ist das?‘, grübelte sie. ‚Was kommt da näher? Ein Drache?‘ Nun spürte es auch ihr Freund Rußschwarzchen und klammmerte sich unsicher an ihre Hand. Sie versuchte ihn zu beruhigen: „Hab keine Angst, Rußschwarzchen. Ich weiß auch nicht, was das ist. Anfangs dachte ich an ein Erdbeben, aber der Rhythmus ist so gleichmäßig, wie wenn ein gewaltiges Tier auf den Boden stampft…“ „Dann weiß ich, was das ist!“, rief der Junge aus. „Ein Riese. Die gibt es, das hat mir meine Tante mal erzählt. Die war bei uns zu Besuch, und ich mag sie. Sie ist immer so nett. Sie erzählt so schöne Geschichten.“ Seine blinde Freundin staunte. Konnte er damit Recht haben? Wenn sie es sich genau überlegte schon. Die gleichmäßigen Erschütterungen könnten wirklich Riesenschritte sein, sie glaubte sogar, spüren und inzwischen auch hören zu können, dass sie von zwei und nicht von vier Beinen kamen. Noch während sie so grübelte, hatte Rußschwarzchen schon einen interessanten Einfall: „Ich weiß was! Wir klammern uns an den Beinen vom Riesen fest, dann kann er uns nichts tun. Aber er kann für uns die Räuber zerstampfen, dann sind die kaputt und tot. Und wir können den Prinzen holen!“ Er war schon wieder völlig begeistert. Dass es nicht so einfach wäre, war Rosenblau natürlich klar, denn wie sollten sie den Riesen dazu bringen, auf die Räuber zu treten? Wer konnte schon wissen, ob der Riese gutmütig oder böswillig war? Andererseits war es vielleicht eine Chance. „Wir sollten uns erst mal verstecken, Rußschwarzchen. Wenn der Riese hier vorbeikommt und einen guten Eindruck macht, dann können wir uns vielleicht an ihm festhalten. Siehst du ein gutes Versteck? „Na klar!“, entfuhr es dem Jungen ziemlich laut, so dass Rosenblau ihn mit einem deutlichen „Psssst!“ bremsen musste. Wesentlich leiser fuhr er fort: „Hier, bei diesem Brombeergebüsch. Das ist sehr dicht, keiner kann dahinter schauen. Aber seitlich ist ein schmaler Gang, da kann man dahinter kriechen.“ „Na gut“, wandte sie ein. „Aber du darfst auf keinen Fall etwas von diesen Brombeeren naschen. Reife Brombeeren im Mai gibt es nicht. Die müssen giftig sein!“ Schon dirigierte er sie an der Hand vorsichig hinter die Brombeersträucher, wobei er sehr beutsam war und sorgfältig darauf achtete, dass sie sich nicht an den scharfen Dornen verletzte. Der Riese stapfte immer näher heran. Inzwischen erschütterten seine Schritte schon so heftig die Erde, dass einige Blätter raschelnd von den Bäumen fielen. Plötzlich murmelte der liebe Nachbarsjunge: „Das ist ja komisch. Ich dachte, dass hinter den Brombeersträuchern ein Hügel ist. Aber hier ist der Eingang zu einer tiefen Höhle. Da geht es ganz schön weit in den Berg hinein. Und dunkel ist es da. Was da wohl drin ist?“ „Bleib um Gottes Willen hier!“, antworte Rosenblau mit fester Stimme, denn sie fürchtete, dass die Entdeckerlust des Jungen sie sonst in Schwierigkeiten bringen könnte. Gleichzeitig wurde ihr klar: Eine große Höhle, die von eigenartigen Brombeeren verdeckt war? Das musste die Räuberhöhle sein. Und bei den Räubern war wohl eine Frau, die hexen oder zaubern konnte, so etwas hatten die Frauen im Dorf erzählt. Also hatte sie vermutlich die Brombeersträucher zur Tarnung hingezaubert. „Rußschwarzchen, hör mir gut zu!“, sagte sie rasch. „Das muss die Räuberhöhle sein, vielleicht ist der Prinz hier versteckt. Dann hast du ihn gefunden. Aber der Riese könnte zu den Räubern gehören. Oder die Räuber spüren die Erschütterungen und wollen aus ihrer Höhle fliehen – dann erwischen sie uns. Wir müssen ganz schnell von hier weg. Den Riesen können wir vielleicht an uns vorbeigehen lassen, den brauchen wir ja gar nicht mehr. Jetzt können wir den Prinzen auch allein befreien.“ „Das ist gut!“, gab ihr bester Freund zur Antwort. „Dann müssen wir mit dem Riesen auch nicht die Belohnung teilen. Der würde uns bestimmt alle Weihnachtsplätzchen wegfressen. Riesen haben immer Hunger!“ Er kannte sich eben aus. Ohne zu zögern ergriff er wieder ihre Hand und führte sie auf seine sorgsame Art hinter dem Brombeergestrüpp hervor zu einem großen Baum. „Wenn wir hier raufklettern, sind wir sicher. Da finden uns die Räuber nicht, und der Riese bestimmt auch nicht. Du weißt doch, wie oft wir als Kinder auf die Apfelbäume im Garten geklettert sind! Ich mag dieses Spiel!“ Er lenkte ihre Hand wie früher zu einem tiefen, dicken Ast des Baumes, an dem sie sich hochziehen konnte. Von dort aus konnte sie jede weitere Bewegung gut ertasten. Ihr Gleichgewichtssinn funktionierte viel besser als bei Menschen, die sehen können. Wir Sehenden erkennen durch die Bilder in unseren Köpfen, ob wir zum Beispiel gerade stehen. Mit geschlossenen Augen übernimmt das ein Gleichgewichtsorgan in den Ohren, das bei blinden Menschen sehr gut trainiert, bei Sehenden aber oft verkümmert ist. Jetzt aber war das Klettern besonders schwierig, weil der Baum von den Erschütterungen durch den Riesen zitterte und bebte. Doch das Mädchen schaffte es, wenige Augenblicke später waren beide vom dichten Laub der Baumkrone gut verborgen. Als Rosenblau ein Blatt abtastete, erkannte sie sogar an der Form, dass sie auf einem dichten Ahornbaum saßen. Der Riese kam wirklich immer näher, anscheinend stapfte er direkt auf die Räuberhöhle zu. Wie gut, dass sich die zwei Freunde in Sicherheit gebracht hatten. Bestimmt kamen bald die Räuber heraus, vielleicht arbeitete diese Hexe sogar mit dem Riesen zusammen? Mit einem Mal drangen einige hohe Stimmen an die Ohren des Mädchens, irgendwelche Frauen jammerten oder weinten. Die Räuber konnten das nicht sein. Die Stimmen kamen ihr bekannt vor, aber weil mehrere Stimmen gleichzeitig klagten, konnte sie sie nur schwer unterscheiden. „Oh nein!“, rief da Rußschwarzchen neben ihr. „Das sind die Frauen aus unserem Dorf. Der Riese hat sie mit seiner Hand gepackt und hält sie fest. Sie strampeln und weinen, aber er bringt sie hierher.“ Auch Rosenblau rutschte das Herz nach unten, ihr Magen krampfte sich zusammen. Jetzt hörte sie, wie der Riese nicht weit von der Höhle entfernt stehen blieb und mit tiefer Bassstimme brüllte: „Hexe, da bin ich. Ich bringe dir die Frauen, wie du befohlen hast. Sie standen alle mitten auf dem Dorfplatz. Kriege ich jetzt meine Belohnung?“ „Die bekommst du schon noch“, kam die Antwort vom Höhleneingang her. Anscheinend war die Hexe leise herausgeschlichen. „Hast du wirklich alle Frauen im Dorf erwischt? Die wollten mich überlisten, aber das wird ihnen schlecht bekommen.“ Sie kicherte böse, woraufhin die Frauen vor Angst erstarrten. In Rosenblaus Kopf arbeitete es fieberhaft. Irgendetwas mussten sie tun, nur was? „Aber ich habe Hunger!“, dröhnte der Riese, „du hast mir Essen versprochen. Und ich brauche das Essen jetzt! Ich habe Huuuuunger!“ Der Riese konnte einem fast leid tun. Da spürte Rosenblau neben sich eine Bewegung, die sie nicht einordnen konnte. Was tat Rußschwarzchen? Schnitt er ein paar dünne Ahornzweige ab? Sie erinnerte sich, beim Klettern gespürt zu haben, dass der Baum einige lange, dünne Triebe besaß, zu dünn zum Festhalten, an deren Ende sich vermutlich einige zackige Blätter befanden. Und der Nachbarsjunge hatte meist ein Taschenmesser in seiner Hosentasche. Jetzt wackelte und zitterte der Ast neben ihr… Auf einmal erfüllte ein furchtbares Gebrüll den Wald. Auch Rosenblau brauchte eine Weile, bis sie erkannte, dass der Riese laut lachte. Und nun wurde ihr auch klar, was Rußschwarzchen da tat: mit den buschigen Enden der langen Ahorntriebe kitzelte er den Riesen heftig. Jetzt hörte man die Frauen vor Angst kreischen, gefolgt von einem lauten Platschen: Der Riese hatte die Frauen losgelassen, die zum Glück in einen kleinen Teich gefallen waren. Dieser Teich mit dunklem Moorwasser befand sich genau an der richtigen Stelle, um den Absturz der Frauen so abzumildern, dass sich alle triefend nass und voll Schlamm, aber wohlbehalten ans Ufer retten konnten. Auf das Platschen folgte jedoch ein noch schlimmeres Getöse: Der Riese fiel vor lauter Gelächter um, wobei er mehrere Bäume unter sich begrub. Er hielt sich den Bauch vor Lachen. „Schnell, Rußschwarzchen, führe mich zu einem Ohr des Riesen. Ich habe eine Idee!“ Das Mädchen hatte noch nicht zu Ende gesprochen, schon lenkte ihr Freund sie wieder nach unten und in sicherem Abstand vom zuckenden Riesen bis zu dessen Ohr. Dort hinein brüllte nun Rosenblau, damit der Riese es auch wirklich hörte: „Die Hexe will dich betrügen. Sie will dir nichts zu essen geben. Oder nur altes, vegammeltes Zeug. Aber wenn du uns hilfst, dann bekommst du ganz viel gutes Essen. Mache die Räuberhöhle einfach kaputt und hole den dort gefangenen Prinzen heraus! Das ist ein junger Mann mit schönen Kleidern, der ist dort gefesselt.“ Der Riese erstarrte mitten im Lachen, dann brüllte er: „Waaas, du blöde Hexe! Du willst dein Versprechen nicht halten? Ich habe doch so Huuunger! Dir werd ich’s zeigen!“ Schon erhob er sich auf alle Viere, hob seine riesige rechte Hand hoch in die Luft und ballte sie zur Faust. Rosenblau und Rußschwarzchen konnten sich gerade noch zur Seite rollen. Ein gewaltiger Hieb sauste auf den Hügel hernieder und lies diesen wie eine Nuss auseinanderbrechen. Manche von den Räubern und auch die Hexe verloren dabei durch die herabstürzenden Felsen ihr Leben. Der Prinz aber war zum Glück in einem der hinteren Höhlenwinkel gefangen, ihn holte der Riese mit spitzen Fingern (die allerdings so groß wie heutzutage Baukräne waren) heraus. Und man kann es kaum glauben, aber der Riese war vorsichtig genug, den Prinzen nicht zu verletzen. Auf diese Weise wurden also der Prinz und alle Frauen des Dorfes gerettet, und zugleich wurden die Räuber und die Hexe bestraft. Nach all diesen schrecklchen Erlebnissen wollte der Prinz nur noch auf schnellstem Weg zurück in das Schloss seines Vaters, die ganze Gegend mied er fortan. Der König aber erfuhr bald, wer seinen Sohn gerettet hatte. Und gerecht wie der König war, ließ er die Belohnung von tausend Goldtalern an Rosenblau und Rußschwarzchen auszahlen, die längst als große Helden im Dorf gefeiert wurden. Rosenblau aber hielt sich an das Versprechen, das sie dem hungrigen Riesen gegeben hatte: Sie machte den Bäuerinnen klar, dass sie dem Riesen sofort etwas zu essen kochen mussten. Auch wenn es in dem armen Bauerndorf keine teueren Speisen gab, war es doch genug, dass der Riese seinen Hunger zumindest ein bisschen stillen konnte. Auch die Bauern, die nach einem ganzen verschlafenen Tag endlich zurück zum Dorf wanderten, sahen ein, dass man dem hungrigen Riesen helfen musste. Gottlob kann man von tausend Goldtalern wirklich riesenhafte Mengen an Nahrung kaufen, so dass der Riese nie mehr solch riesigen Hunger leiden musste. Zum Dank blieb er dem Dorf für alle Zeit sehr verbunden, half dort, wenn er konnte, und beschütze es vor allen Gefahren. Rosenblau und Rußschwarzchen aber lebten lange Zeit glücklich und von allen geachtet und bewundert zusammen, und die dankbaren Frauen steckten dem großen Jungen Rußschwarzchen immer wieder einige Plätzchen zu. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann sind sich Rußschwarzchen und Rosenblau auch heute noch gegenseitig ein Segen.
© 2019 Bertram der Wanderer und die Kinder der Klasse 4a der Grundschule an der Keilberthstraße, München