… Das Mädchen Rosenblau war ja blind, deshalb war sie es gewohnt, sich immer mit ihren Ohren zu orientieren. Das Gehör war neben dem Tastsinn ihr wichtigstes Sinnesorgan. Daher vernahm sie diese Schritte bereits, als sie noch weit entfernt waren. Schnell flüsterte sie: „Rußschwarzchen, da kommt jemand. Vielleicht ein Räuber, es ist jedenfalls nur eine Person, das höre ich. Verstecken wir uns lieber. Wo geht das?“
Ihr Freund musste nicht lange überlegen: „Nicht bei den Brombeeren, die haben Dornen, da würdest du dich verletzen. Auf der anderen Seite des schmalen Wegs, auf dem wir hierhergekommen sind, ist ein großer Baum.“ Schon ergriff er ihre Hand und führte sie behutsam wie immer hinter den mächtigen Stamm einer gewaltigen Buche, die schon seit Jahrhunderten hier stand und ihre Äste in den Himmel reckte. Er begriff auch, dass er sich mucksmäuschenstill verhalten musste. Die Gedanken in seinem Kopf bewegten sich zwar nur sehr langsam und zäh, wie Griesbrei. Aber er spürte oft, was zu tun war.
Vorsichtig spähte Rußschwarzchen hinter dem dicken Baumstamm hervor. Wenn die Gefahr vorüber war, wollte er seiner Freundin berichten, was er jetzt sah. Sie konnte ja nur durch seine Augen sehen, dafür half sie ihm beim Denken.
Die Schritte, die sich da näherten, machte ein Mann, der einen langen, schwarzen Mantel trug. Sein Gesicht mit dem dunklen Zottelbart war von einem schwar-zen Tuch halb verdeckt. Er ging direkt auf den seltsamen Brombeerstrauch zu, an dessen Zweige schon jetzt im Mai Früchte hingen, vielleicht giftig oder verzau-bert. Beim Brombeergebüsch angekommen machte er einen Schritt zur Seite, ging in die Hocke und kroch seitlich hinter die Brombeeren. So verschwand er.
„Dann ist das bestimmt ein Räuber“, flüsterte Rosenblau, nachdem ihr Rußschwarzchen alles berichtet hatte. „Und hinter den Brombeeren gibt es vielleicht eine Höhle, siehst du da einen Berghang oder so etwas?“
„Ja, dahinter ist ein Hügel, teilweise gibt es Felsbrocken. Es geht einige Meter hoch, aber nicht sehr weit.“
Die beiden Freunde schlichen möglichst lautlos zu dem Brombeerbusch und versuchten den Weg zu finden, der dahinter führen musste. So krochen sie wirk-lich zum Eingang einer tiefen Höhle, das Mädchen hatte also richtig vermutet. Leise drang das Gemurmel von weit entfernten Stimmen an ihr Ohr. Sie hatten die Räuberhöhle gefunden!
„Führ mich mal ein paar Schritte in diese Höhle rein, ich will versuchen, etwas zu verstehen. Aber niemand darf uns entdecken!“ Rosenblau wisperte fast lautlos, der Nachbarsjunge brummte nur „Hmmm“, er hatte begriffen. Bald lauschten die beiden mit angehaltenem Atem.
„Hier, ein paar Kräuter hab ich gefunden“, knurrte eine tiefe Männerstimme, vielleicht gehörte sie dem Räuber, der gerade gekommen war. „Sauerklee und Sauerampfer, Bärlauch und Giersch, und Löwenzahn. Das Geben wir dem Prinzen, damit er uns nicht vom Fleisch fällt. Wir müssen ihn ja gut behandeln, wenn er verhungert, zahlt keiner mehr Lösegeld für ihn. Habt ihr schön auf unseren teueren Gefangenen aufgepasst? Und auf die zwei von der blöden anderen Bande, die wir auch gefesselt haben? Die wollten uns bestimmt in die Quere kommen. Das müssen wir verhindern.“
„Na klar, Sepp!“, brüllte ein anderer Räuber zurück. „Wir sind doch nicht blöd. Bist du allein gekommen? Mit dir sind doch noch fünf von uns weggegangen, und unsere Chefin, die Hexe, die alles weiß. Wann bringt ihr uns endlich was zu essen? Mein Magen knurrt! Auf Gefangene aufpassen, das macht auch Hunger!“
„Du gefräßiger Trottel!“, schimpfte der Räuber, der mit ‚Sepp‘ angesprochen wurde. „Du wirst dein Essen schon kriegen.“
Rosenblau hatte genug gehört. Jetzt wurde es ihr hier zu gefährlich. „Schnell, wieder raus hier“, raunte sie ihrem lieben Helfer zu. „Sonst kommen die Räuber zurück, und bei denen ist wohl auch eine Hexe.“
Rußschwarzchen erschark: „Eine Hexe? Dann will die uns braten, wie den Hänsel. Das hat mir meine Oma mal erzählt.“ Das Mädchen legte ihm rasch die Hand auf den Mund, denn in seinem Schreck hatte er recht laut gesprochen. Zum Glück waren die Räuber so mit ihrem Hunger und dem Streiten beschäftigt, dass sie nichts hörten. Lautlos schlichen die zwei Freunde aus der Höhle.
Rosenblau hatte bereits einen Plan gefasst: Über der Höhle war ja ein kleiner Berghügel, teilweise mit Gras bewachsen, teilweise ragten große Felsbrocken hervor. Auf den Hügel kletterten die beiden nun. Das gelang auch dem blinden Mädchen ganz gut, denn sie konnte nach geeigneten Haltemöglichkeiten tasten. Rußschwarzchen brauchte nur eine Hand zum Klettern, mit der anderen konnte er kleine Steine hochtragen, die er zuvor aufgesamelt hatte.
Als sie einige Meter über dem Höhleneingang auf einem Felsvorsprung standen, verharrten sie dort lautlos und warteten, bis fünf weitere Räuber und eine Frau, die ebenfalls wie ein Räuber gekleidet war, in der Höhle verschwunden waren. Wenn sich Rosenblau nicht täuschte, waren jetzt alle Räuber in der Höhle. Dann begannen die beiden Retter ihren Plan auszuführen. Der Junge schleuderte immer wieder ein Steinchen von oben gegen die Brombeerzweige, die den Höhleneinang verdeckten. Gleichzeitig trampelten und stampften die beiden auf dem Felshügel herum, wobei sie auch mit unterschiedlich verstellter Stimme Anweisungen brüllten. Alles zusammen ergab einen ziemlichen Lärm, der von gebrüllten Rufen gekrönt wurde: „Drei Mann mal da hinüber!“ – „Die Bogenschützen sollen tiefer zielen!“ – „Knappen, passt auf die Pferde auf!“ – „Haltet eure Schwerter bereit, Männer!“ Dazwischen imitierte Rosenblau immer wieder das Wiehern von Pferden.
Der Krach drang natürlich in die Räuberhöhle, und die Räuber erschraken. Von hier hörten sich die Steinchen an wie Pfeilschüsse, die gegen die Höhle abge-feuert wurden. Dazu das Gebrüll, offenbar stand die ganze Armee des Königs vor der Höhle. Hals über Kopf flüchteten die Räuber und die Hexe. So schnell sie konnten, rannten sie davon und versteckten sich in weiter Entfernung.
Aber viel Zeit blieb den zwei Jugendlichen nicht, um den Prinzen zu befreien. Wer weiß, wann die Räuber zurückkehren würden? Rußschwarzchen half seiner Freundin von dem Hügel herunterzuklettern und führte sie wieder zum Höhleneingang. Drinnen war es stockdunkel, bei der Flucht hatte ein Räuber einen Wasserkessel, der über einem keinen Lagerfeuer hing, umgestoßen und so das Feuer gelöscht. Die Dunkelheit störte Rosenblau aber keineswegs, denn für sie war das ja der Normalzustand. Bald hatte sie das gepresste Atmen von zwei Männern ausgemacht, die wohl gefesselt und geknebelt auf dem Boden lagen. In ein paar Metern Entfernung hörte sie leise noch die Atemgeräusche einer weiteren Person, sie schlich näher, dann musste sie lächeln. In ihre Nase war der zarte Duft vom Parfüm des Prinzen gestiegen. Der Duft, der ihr am Tag zuvor schon aufgefallen war, als der Prinz mit ihr gesprochen hatte. Sie hatte ihn gefunden!
Mit ihren geschickten Händen öffnete sie sogleich die Knoten in den Stricken, mit denen der Prinz gefesselt war. Die beiden gefangenen Räuber, die allem Anschein nach zu einer anderen Bande gehörten, ließ sie natürlich liegen. Schon nach wenigen Minuten war sie mit dem Prinzen am Höhlenausgang zurück, wo Rußschwarzchen Wache gehalten hatte. Zusammen krochen sie dann hinter den Brombeeren hervor, ab jetzt übernahm der Prinz die Führung. Er hatte nämlich tags zuvor mitbekommen, wo die Räuber sein edles Pferd angebunden hatten. Dorthin eilten sie, banden den Hengst los, der Prinz schwang sich in den Sattel und half seinen Rettern ebenfalls hinauf.
In gestrecktem Galopp ging es nun zum Schloss, wo der König seinen Sohn glücklich in die Arme nahm. Dieser aber befreite sich bald aus der väterlichen Umarmung und gab Anweisungen: Die Ritter sollten unverzüglich in den Wald reiten und die ganze Räuberbande festnehmen.
Warum aber verzauberte die Hexe die Ritter nicht? Sie war mit ihren Räubern Hals über Kopf aus der Höhle geflüchtet. Panisch war sie durch den Wald gerannt und dabei über eine dicke Wurzel gestolpert. Bei ihrem anschließenden Sturz war sie mit dem Kopf derart heftig gegen einen großen Stein geknallt, dass sie ihr Gedächtnis verlor. An keinen einzigen Zauberspruch konnte sie sich mehr erinnern, daher konnten die Ritter auch sie problemlos einsperren.
Die zwei gefesselten Räuber der anderen Bande wurden ebenfalls festgenommen. Ihnen schlugen die Ritter dann einen Handel vor: wenn sie den Rest ihrer Bande verrieten, sollten die zwei straffrei ausgehen, hatten sie doch als Gefangene in der Räuberhöhle schon einen Teil ihrer Strafe verbüßt. Und weil Selbst-losigkeit nicht gerade die häufigste Eigenschaft bei Räubern ist, saß bald auch der größte Teil der anderen Bande hinter Gittern.
Aber die Geschichte ist noch nicht zu Ende: Der Prinz hatte sich ja schon in das schöne Mädchen Rosenblau verliebt, als er sie zum ersten Mal im Dorf erblickt hatte. Als nun alle in Sicherheit waren, bat er sie, seine Frau zu werden. Sie aber schüttelte lächelnd den Kopf: „Ihr Antrag ehrt mich sehr, königliche Hoheit. Aber ich kann Sie nicht heiraten. Rußschwarzchen war mir immer der liebste Freund, den ich hatte. Er tut sich zwar mit dem Denken schwer, aber er ist lieb und umsichtig wie kein anderer. Wenn ich jemanden heirate, dann nur ihn.“
„Natürlich heiraten wir!“, platzte Rußschwarzchen dazwischen. „Es war doch immer schon klar, dass wir zwei heiraten.“
Angesichts dieser ganz besonderen Liebe konnte der Prinz nur staunen. Er verzichtete auf seinen Wunsch, stattdessen bekamen Rosenblau und Rußschwarz-chen die vom König versprochene Belohnung von tausend Goldtalern. Mit diesem Geld konnten sie sich ein kleines, aber solides Bauernhaus im Dorf kaufen, mit Kühen, Ziegen und einem großen Garten, so dass sie immer sorglos leben konnten. Es war sogar noch genug Geld übrig, um einen besonderen Arzt zu bezahlen: Er hatte im weit entfernten Indien gelernt, wie man auch damals schon eine Operation am Auge durchführen konnte. Diese war zwar sehr schmerzhaft, aber sie glückte, und Rosenblau konnte danach wenigstens ein bisschen schemenhaft sehen.
Zusammen mit ihrem Ehemann lebte sie lange Zeit sehr glücklich in dem Dorf, wo beide von allen Dorfbewohnern sehr geachtet und bewundert wurden. Dies hatte zur Folge, dass niemand sie mehr bei den ursprünglichen Schimpfnamen „Rosenblau“ und „Rußschwarzchen“ nannte. Von nun an hießen die zwei Eheleute im Dorf „Johanna“ und „Johannes“, ihr kleiner Hof war so gut gepflegt und hübsch, dass er noch viele Jahre später das Schmuckstück des ganzen Ortes darstellte. Und vielleicht gibt es das Haus noch heute in jenem Dorf.
© 2019 Bertram der Wanderer und die Kinder der Gruppe „Führichstraße“ der Ramersdorfer (B)engel, München