… Bereits aus großer Entfernung konnte das blinde Mädchen diese Schritte vernehmen, kein Wunder bei ihrem so gut trainierten Gehör. Für einen Moment stützte sie sich mit der Hand auf einem großen Felsblock auf, der da ein Stück neben dem dichten Brombeergestrüpp auf dem Waldboden lag. Angestrengt lauschte sie, Rußschwarzchen bemerkte dies und rührte sich nicht, um sie nicht zu stören. Dann wisperte sie: „Da kommen zwei Leute, sie müssen sehr groß und schwer sein, das höre ich an ihren Schritten. Und sie bleiben immer wieder stehen, so wie man das macht, wenn man etwas sucht. Schnell, Rußschwarzchen, versteck dich gut, dass dich niemand sehen kann. Und nicht bei diesen Brombeeren, die sind gefährlich, glaube ich.“
Dann tastete sie mit ihren flinken Händen an dem Felsbrocken entlang. Er war groß, dahinter gab es etwas Platz, sie spürte nämlich nichts über dem Boden, aber dann verlief eine Wand aus Erde und Gras schräg nach oben, wohl ein steiler Hügel. Der Spalt zwischen Hügel und Fels war groß genug, hier konnte sie sich auf den Boden kauern, bestimmt würde man sie so nicht sehen. Schon war Rosenblau versteckt.
Ihr Freund Rußschwarzchen hingegen stand noch immer direkt vor diesen Brombeersträuchern. Die Ratschläge, die ihm das Nachbarmädchen schnell zugeflüstert hatte, waren zu viele für seinen langsam arbeitenden Verstand. Wie hatte sie das gemeint? Schnell verstecken, aber nicht bei den Brombeeren? Was ist gefährlich? Wer kommt? „Rosneblau,“ raunte er in die Richtung, in die sie verschwunden war, wie meinst du…“
„Scht!“, unterbrach sie ihn sofort. „Los, versteck dich!“
Die Schritte kamen immer näher, sie hörte von oben auch das Knacken von Ästen, vermutlich von breiten Schultern stämmiger Männer.
„Aber wo?“ Rußschwarzchen überlegte noch immer so fieberhaft, wie er eben konnte. Langsam wandte er den Kopf nach allen Seiten, aber nichts schien ihm als Versteck geeignet. Außer dem Brombeergestrüpp, aber dort sollte er ja nicht… Vielleicht, wenn er nicht hinsah? Der Junge drehte sich um und versuchte rückwärts hinter die Brombeersträucher zu kriechen.
Jetzt wurden zwei Gestalten sichtbar, mit langen Zottelhaaren, die fast ihre ganzen Körper zu bedecken schienen, sie stapften auf dem Pfad direkt auf Rußschwarzchen zu, und sie waren ziemlich groß. Der Junge erschrak und wollte sich rückwärts in das Brombeergestrüpp kauern, da stach ihn ein spitzer Brombeerdorn direkt in den Po. „Auuu!“, schrie er aus Leibeskräften, was natürlich auch die beiden herannahenden haarigen Wilden sofort hörten. Sie blieben stehen, einer von ihnen zeigte mit seiner schmutzigen Hand, die eher einer Pfote ähnelte, auf den Jungen, der vor Schmerz hochgefahren war. Der andere nickte nur, dann stampften sie auf Rußschwarzchen zu, der vor Erstaunen keinen Laut hervorbrachte, packten ihn gleichzeitig an den Schultern und schleiften ihn ein Stück mit sich mit.
Rosenblau hörte nur die entsprechenden Geräusche und war in größter Sorge. Hatten diese großen Männer ihren Freund geschlagen? Oder entführt? Dass es sich bei den beiden um große, haarige Trolle handelte, konnte sie ja nicht sehen.
Nachdem die Trolle mit Rußschwarzchen auf dem Waldpfad um eine Kurve gebogen waren, blieben sie stehen und betrachten sich ihren Fang eingehend. Dann fing einer von ihnen mit tiefen, kehligen Lauten zu sprechen an: „Ob das der Prinz ist, für den es die Belohnung geben soll?“
Der andere antwortete mit ähnlicher Stimme: „Ich weiß nicht. Irgendwie sieht er nicht wie ein Prinz aus. Dieser Junge hier hat so ein schmutziges Hemd an.“
„Schmutzig wie wir“, pflichtete der erste ihm bei. „Der Prinz, den wir suchen, muss anders aussehen.“
Da fand Rußschwarzchen die Sprache wieder: „Ach, den Prinzen sucht ihr. Ich auch. Wir können doch zusammen suchen, dann ist das leichter.“
Einer der Trolle nickte: „Meinetwegen. Aber ob wir dir von der Belohnung etwas abgeben, das wissen wir noch nicht!“
Der andere nickte ebenfalls. Sie nahmen Rußschwarzchen in ihre Mitte und stapften mit ihm weiter in den Wald. Dieser fand das so aufregend, dass er an seine blinde Freundin zunächst nicht mehr dachte.
Die versuchte inzwischen verzweifelt herauszufinden, was mit Rußschwarzchen geschehen war. Behutsam tastete sie sich in die Richtung, aus der sie ihn zuletzt wahrgenommen hatte, bei diesen verwünschten Brombeeren. Zentimeterweise kroch sie auf allen Vieren hinter dem schützenden Felsblock hervor, dann langsam weiter, so gelangte sie von der Seite genau hinter die Brombeerbüsche, denn hier gab es ebenfalls eine Art Spalt zwischen Hügel und Gestrüpp, breit genug, dass sie gerade noch durchkriechen konnte, ohne sich ständig die Haut an den Dornen aufzureißen. Plötzlich spürte sie einen Luftzug neben sich. Dort im Hügel musste eine Öffnung sein, vielleicht eine Höhle, die weiter in den Hügel hineinführte. Ob Rußschwarzchen dort hineingeraten war? Sie richtete sich halb auf, um die Abmessungen des Höhleneingangs befühlen zu können. Schließlich machte sie einen Schritt hinein, dann noch einen, und noch einen, dabei lauschte sie angestrengt. Mit der Hand spürte sie die kalte, feuchte Felswand der Höhle, an ihr entlang ging sie langsam weiter.
Plötzlich stieß ihr Fuß gegen ein paar kleine Steine, die vor ihr auf dem Boden lagen, sie hatte sie ja nicht sehen können. Die Steine kullerten nach vorne, im gleichen Augenblick hörte sie, wie zwei Menschen auf einmal hochfuhren. Ein Stück weiter in der Höhle saßen zwei der Räuber als Wachposten auf dem Boden, die hatten das Holpern der Steine gehört.
„Wer da?“, schrie der eine, dann waren sie schon auf den Beinen und zu Rosenblau geeilt. „Aah, ein junges hübsches Mädchen, wie kommt die denn hierher?“, nuschelte die gleiche Stimme erfreut.
„Finger weg!“, schnauzte ihn der andere an. „Die will ich für mich haben.“
„Du Blödmann, das könnte dir so passen,“ schimpfte der erste zurück. „Ich hab sie zuerst gesehen.“
„Ist mir doch egal, du Depp. Ich nehme sie mir, und wenn dir das nicht gefällt, dann kriegst du was in die Fr…“ Weiter kam er nicht, denn der erste Wächter hatte ihn schon mit der einen Hand an den fettigen Haaren gepackt und ihm mit der anderen eine Ohrfeige verpasst.
Der Geschlagene schüttelte sich und zischte: „Das wirst du mir büßen!“ Dann hieb er seinem Gegner die geballte Faust in die Magengrube, dass der beinahe vornüber fiel. Sobald er aber das Gleichgewicht wiedergefunden hatte, packte er das Handgelenk des anderen und drehte ihm mit einer raschen Bewegung die Hand auf den Rücken, dass dieser vor Schmerz aufschrie.
Rosenblau hörte nur die Geräusche dieses Kampfes, sie presste sich so flach wie möglich gegen die Höhlenwand, um nicht von einem Schlag getroffen zu werden, und wagte nicht zu atmen. Zu den übrigen Räubern in der Höhle waren die Kampfgeräusche natürlich längst vorgedrungen, sie stürmten herbei.
Einer der beiden Kämpfenden schrie die anderen Räuber an: „Was wollt ihr hier? Verschwindet! Das Mädchen gehört mir!“
„Welches Mädchen?“, fragte einer der neu Hinzugekommenen, aber zur Antwort erhielt er einen Tritt gegen das Schienbein. Der ließ sich das nicht gefallen und schlug zurück. Der andere Wächter drosch auf den nächstbesten Räuber ein – alle begannen eine wilde Prügelei, in der auch die Hexe und der Anführer der Räuber kräftig mitmischten. Jeder schlug jeden, dabei kannten die meisten den Grund des Streits nicht einmal.
Das blinde Mädchen nutzte die Gunst der Sunde, die Räuber hatten sie nämlich noch immer nicht entdeckt, abgesehen von den zwei Wächtern, aber die waren ja beschäftigt. An der Wand entlang tastete sie sich weiter in die Höhle hinein, bis sie vor sich einen Menschen mehr spürte als hörte. Er atmete gepresst, würgte dabei leicht und schien auf dem Boden zu liegen. Sie ging in die Hocke und tastete: ja, da lag jemand, gefesselt und geknebelt. Rußschwarzchen war es nicht, die Kleidung dieses Gefangenen fühlte sich weich und edel an: der Prinz! Mit ihren geschickten Händen konnte sie die Knoten und Fesseln lösen, die völlige Dunkelheit ringsum spielte für sie ja keine Rolle. Der Prinz war befreit und wusste noch nicht einmal von wem.
Aber wie sollte sie mit ihm aus der Höhle gelangen? Auf dem Weg zum Ausgang schlugen die Räuber ja noch immer wild auf einander ein…
Zum Glück war Rußschwarzchen draußen bei den Trollen. Diese hatten gleich Vertrauen zu dem Jungen gefasst, denn er war der erste Mensch, der sich vor den schmutzigen, großen und kräftigen Gesellen nicht fürchtete. Ein Stück weit waren sie zusammen in den Wald gestapft, aber dann war ihm Rosenblau wieder eingefallen. Die sollte mitkommen! Also überredete er die beiden Trolle noch einmal zurückzugehen, und hinter den Brombeersträuchern hörten sie den Kampf der Räuber. Nun, Trolle fackeln da nicht lange. Bevor Rußschwarzchen einen Gedanken hätte fassen können, hatten die Trolle schon die Brombeersträucher einfach mit bloßen Händen aus dem Erdboden gerissen, waren in die Höhle geeilt und hatten den noch immer prügelnden Räubern derart heftige Ohrfeigen verpasst, dass diese die Englein singen hörten.
Aber wie konnten sie alle Räuber gleichzeitig gefangen nehmen? Dafür hatten die Trolle den rettenden Einfall: Sobald jetzt der Prinz, Rosenblau und Rußschwarzchen aus der Höhle gelaufen waren, packten die Trolle einfach den großen Felsbrocken, hinter dem sich das Mädchen versteckt hatte, und wuchteten ihn vor den Höhleneingang. Dieser Stein war groß und schwer genug, den würden die Räuber bestimmt nicht so schnell wegrücken können, zumal sie von den Schlägen arg benommen waren.
Dann gingen alle auf schnellstem Wege zum Königsschloss, wo der König über die Rettung seines Sohnes unbeschreiblich glücklich war. Aber es gab noch mehr Glück im Schloss: Nachdem die Ritter zur Höhle losgeschickt waren, um die Räuber und die Hexe endgültg ins Gefängnis zu sperren, fiel der Prinz vor Rosenblau auf die Knie und bat sie, seine Frau zu werden. Und das blinde Mädchen willigte gerne ein, allerdings nur unter der Bedingung, dass auch ihr Jugendfreund Rußschwarzchen sorglos im Schloss leben dürfe. Und wer bekam die 1000 Goldtaler? Der Prinz traf eine weise Entscheidung: Rosenblau und Rußschwarzchen sollten ja nun im Schloss bleiben, wo sie diese Taler gar nicht brauchten. Also gab er die Belohnung von Herzen gern den Trollen, die sich glücklich damit wieder in ihren Wald begaben.
Und so lebten alle glücklich und zufrieden, und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie auch heute noch.
© Bertram der Wanderer und Klasse 4b